Werte erkennen – Werte benennen – Werte weiterentwickeln

Sobald ein Kind zu dir in die Krippe, Kita oder Kindertagespflege kommt, wird es Teil einer ihm völlig fremden Gruppe und muss sich den bestehenden Gruppenregeln und den dort vermittelten Werten unterordnen. Die Kinder bringen erste Werte bereits aus dem Elternhaus mit und gleichzeitig vermittelst du bewusst oder unbewusst den Kindern deinerseits von Anfang an Werte, die dir wichtig sind. So wie die Kinder aus ihrem familiären Umfeld geprägt sind, bist du als pädagogische Fachkraft ebenfalls von den Werten deiner eigenen Familie und deiner bisherigen Lebensgeschichte geprägt. Jeder Mensch – Kinder, Eltern, Kollegen, Kolleginnen und du selbst – hat seine individuellen, persönlichen Werte.

Was sind eigentlich Werte?

Werte sind zunächst einmal allgemeine, kollektiv geteilte Vorstellungen darüber, was die Mitglieder einer Gesellschaft für wünschenswert erachten. Diese Werte prägen deine Persönlichkeit und sind entscheidend für dein Handeln in den unterschiedlichsten Lebenslagen. In deiner Arbeit dienen sie dir als Orientierung für die eigene Einstellung und als “Regulierer” des Denkens, Fühlens und Handelns im Umgang mit den Kinder, Eltern und Mitarbeitenden in ihrer pädagogischen Tätigkeit.

Als Fachkraft solltest du dir bewusst sein, dass du gemeinsam mit dem Elternhaus die Wertehaltung der Kinder mitprägst. Dementsprechend wichtig ist es, dass du dir deiner Werte bewusst bist und den Kindern von Beginn an positive Werte mit auf den Weg gibst.

Werte lassen sich grundlegend in vier Kategorien unterteilen. Es gibt:

  • Geistige Werte (Wissen, Disziplin)

  • Sittliche Werte (Treue, Ehrlichkeit)

  • Religiöse Werte (Toleranz, Glaubensfestigkeit)

  • Private Werte (Höflichkeit, Rücksichtnahme oder Taktgefühl)

Unterm Strich stellen Werte wie Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Toleranz etc. positive Charakterzüge dar. Werte beinhalten immer etwas positives. „Schlechte Werte“ gibt es grundsätzlich nicht.

Trotzdem kommt es in der pädagogischen Arbeit immerwieder zu sog. Wertekonflikten, weil ein Elternteil regelmäßig morgens zu spät kommt, die Kollegin ständig irgendetwas herumliegen lässt oder der Kollege das Kind mit dem Essen spielen lässt.

Was versteht man unter Wertekonflikten?

Ein Wertekonflikt entsteht dann, wenn zwei Werte so im Gegensatz zueinander stehen, dass sie nicht gleichzeitig zu berücksichtigen sind. Im Fall des zu spät kommenden Elternteils kann der Wert der Pünktlichkeit berührt werden, die Kollegin verletzt den Wert der Ordnung und Ordentlichkeit und der Kollege stellt den Wert, Lebensmittel nicht zu verschwenden, möglicherweise in Frage.

Wenn die Situationen mit einem klaren Gespräch nicht lösbar sind, kann dir das Werte- und Entwicklungsquadrat nach Schulz von Thun gegebenfalls weiterhelfen.

Was verbirgt sich hinter dem Werte- und Entwicklungsquadrat?

Es handelt sich um ein weiteres Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun. Mit diesem Modell wird verdeutlicht, dass sich hinter jedem Wert ein Unwert verbirgt und hinter jedem Unwert ein Wert. (s.Abbildung 34/ Beitragsbild) Damit wird es dir u.a. möglich das Gute in deinen Schwächen zu sehen.

Wenn du dich auf den Weg machst und das Gute hinter deinen Schwächen und den Schwächen der anderen erkennst, aber auch das Schlechte hinter den Stärken, erfährst du mehr über dich selbst und andere. Du kannst entdecken, an wo es bei dir und bei deinem Gegenüber Entwicklungspotenziale gibt. Damit wird es dir oftmals leichter, dem Verhalten anderer gegenüber gelassener zu reagieren. Das Wertequadrat ist damit eine wunderbare Methode für mehr Selbsterkenntnis und einen gelasseneren Umgang mit Menschen mit anderen Ansichten.

Oftmals ist es auf den ersten Blick nur schwer erkennbar, dass sich hinter unerwünschten Eigenschaften wie Festhalten an Gewohntem, strengen Vorgaben, Selbstaufgabe, Egoismus, Misstrauen etc. letztendlich ein Wert bzw. Stärke verbergen. Manches Mal muss du dann sehr genau hinschauen, um den hinter jedem Wert dazu gehörigenGeschwister“wert zu erkennen. Diese gegensätzlichen Paare sind wichtig, damit aus einem Wert kein Unwert wird. Unter einem Unwert versteht man die abwertende Übertreibung des eigentlichen Wertes. Dann dann die Pünktlichkeit auch einmal in eine Betonung der Überpünktlichkeit ausarten oder der Anspruch auf Genauigkeit wird zur zwanghaften Perfektion.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung

In der Zusammenarbeit pädagogischer Fachkräfte untereinander oder aber auch im Dialog mit den Eltern kommt es in der Praxis immer wieder zur Reibungen durch unterschiedlichen Wertehaltungen.

So möchte deine Kollegin oder dein Kollege beispielsweise den Kindern klare Grenzen vorgeben, was sie tun und lassen dürfen. (Wert2: Anleitung/ Führung) Du vertritts hingegen die Ansicht, dass ein Kind sich am besten entwickeln kann, wenn es frei und ohne viele Vorschriften von außen seine Erfahrungen machen darf. (Wert1: freie Entfaltung)

Du beschuldigst dann vielleicht deinen Kollegin oder deinen Kollegen als zu streng und einengend (Unwert2), wodurch die Kinder sich nicht entfalten können. Deine Kollegin oder dein Kollege beürchten ihrerseits bei dir eine Laissez-Faire-Haltung (Unwert1), die dazu führt, dass das Kind schon bald nur noch machen wird, was es will.

Wertequadrat für das Beispiel:

Wert1

freie Entfaltung

Wert2

Anleitung/ Führung

Unwert1

Laissez-Faire
mach doch, was du willst

Unwert2

strenge und starre Vorgaben

Wenn du nun die Werte und die dazugehörigen Unwerte in das Wertequadrat einträgst (s.Abb) wird schnell deutlich, dass alle Beteiligten eigentlich für einen Wert auf der oberen Linie eintreten und es eigentlich nicht grundsätzlich darum geht, den anderen zu verteufeln, indem wir ihn auf einem der unteren Unwerten verdammen.

Hilfreich ist nun gemeinsam die sogenannte „goldene Mitte“ zu finden. Jede*r betont aus seiner Sicht einen Teil der Gesamtwahrheit. Die Lösung besteht darin, sich im Optimalfall nicht zu widersprechen, sondern sich in der Gegensätzlichkeit zu ergänzen.

Ohne ein gewisses Maß an Vorgaben wird aus der freien Entscheidungs- und Entwicklungsmöglichkeit für die Kinder schnell eine orientierungsloses Laissez-Faire. Umgekehrt begünstigen zu viele Regeln und Vorgaben eine starre und strenge Atmosphäre, in die Kinder zu sehr beschnitten werden, was wiederum dem Partizipationsansatz komplett widerspricht.

Die Lösung des Wertekonfliktes

Die Lösung eines Wertekonfliktes liegt also in der Überwindung der anscheinenden Polarität, der scheinbaren Unvereinbarkeit zweier an sich ergänzender Bruderwerte. Basis ist die Erkenntnis, dass zwei Teilwahrheiten / Geschwisterwerte im Idealfall in einem flexiblen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen. Das unterstützt dich dabei, in einem Konfliktfall von der Verteufelung deines Gegenübers und seiner Werte abzulassen und zu erkennen, dass auch dein Kollege, deine Kollegin oder die Eltern für einen wertvollen Teil­aspekt eintreten.

Erinnere dich also im nächsten Wertekonflikt daran: „Egal wie unmöglich und gefährlich du du die Ansichten deines Gegenübers auch findest, freue dich, dass es diese andere Seite gibt. Dein Gegenüber macht dich nämlich darauf aufmerksam, dass auch in deinen Werten Unwerte schlummern, die sich potenzieren können, wenn dein Gegenüber nicht wäre.“

Was bringt dir das Werte- und Entwicklungsquadrat?

Zum einen kannst du dich selbst reflektieren. Wenn du beispielsweise unter einer bestimmten Eigenschaft oder Schwäche leidest, kannst mithilfe des Werte- und Entwicklungsquadrates erkennen, in welche Richtung du dich entwickeln solltest.

Wenn du oftmals darum bemüht bist, es allen Recht zu machen und dabei deine eigenen Bedürfnisse vernachlässigst, bist gut beraten, einen gesunden Egoismus zu entwickeln. Neigst du dazu eher zu dominant und kontrollsüchtig zu sein, übe dich im Los- und Zulassen.

Außerdem hilft dir das Wertequadrat zu erkennen, dass hinter jedem Unwert oder jeder Schwäche das Potenzial eines Wertes oder einer Stärke angelegt ist.

Wenn du in der Lage bist, das zu erkennen, hilft dir das, deine eigenen Schwächen besser anzunehmen. Wenn du erkennst, dass hinter deiner unerwünschten Charaktereigenschaft immer auch eine an sich positive Eigenschaft angelegt ist, kannst du dich vielleicht weniger dafür kritisieren.

Dieser Blickwinkel kannst du natürlich auch gegenüber anderen einnehmen und damit gelassener reagieren, wenn dir etwas an deseen Verhalten missfällt. Schließlich weißt du nun, dass in jeder “Schwäche” bzw. übertriebenen Eigenschaft auch ein wertvolles Potenzial angelegt ist. Alles angeblich „Schlechte” hat also einen positiven Kern. Das lässt sich übrigens auch auf die pädagogische Arbeit mit den Kindern übertragen. Anstatt dich über das widerspenstige Kind zu ärgern, kannst du dich über so viel Durchsetzungsfähigkeit freuen.

Schließlich ist das Werte- und Entwicklungsquadrat auch bei zwischenmenschlichen Konflikten sehr hilfreich. In meinem vorherigen Beispiel wurde der Kollege bzw. die Kollegin kritisiert. Der Kritisierte verkörpert für den Kritisierenden ausschließlich negative Ansichten und Eigenschaften, wohingegen er selbst für das Gute und Wertvolle steht. Hier führt die Anwendung des Werte- und Entwicklungsquadrats zu mehr Gelassenheit in der Situation, wenn damit die gegensätzlichen Standpunkte aufgelöst werden.

Ich wünsche dir, dass du zu mehr Dialog und Gelassenheit mit diesen Anregungen finden kannst

Deine Anja

Ergänzender Kita Talk:

Wenn du jetzt gerne noch mehr über den Umgang mit Wertekonflikten erfahren möchtest, dann hör doch ganz einfach in meinen KitaTalk mit Martina Korn: „Meine Werte- Deine Werte, wenn Werte zum Konflikt führen“

 

Und hier noch eine Übung zum Werte- und Entwicklungsquadrat nach Schulz von Thun

Zugegeben, es ist für unseren polar geprägten Verstand nicht immerganz einfach, hinter einem Wert den dazugehörigen Geschwisterwert zu finden bzw. hinter zwei sich auf den ersten Blick gegensätzlichen Werten die entsprechende Ergänzung zu finden.

Fertige doch einfach mal zu jedem der folgenden Begriffe ein Wertequadrat an, dann bekommst du ein besseres Gespür dafür.

a) Starr an Altem festhalten
b) Albernheit
c) Selbstaufgabe / Selbstaufopferung

Tipp: Überlege dir zunächst, ob es sich bei dem Begriff um einen Wert oder eine Übertreibung/Entartung handelt. Einen Wert trägst du immer oben ein, eine Übertreibung nach unten (egal ob links oder rechts).

Finde dann zu einem Wert seinen Geschwisterwert bzw. zu der Überreibung den dahinter liegenden Wert.

Beispiel: Faulheit

Wert 1

zielstrebiger Ehrgeiz

Wert2

entspannte Gelassenheit

Unwert 1/ Übertreibung 1

übertriebener Ehrgeiz/Nicht locker lassen können/
Verbissenheit

Unwert2/

Übertreibung 2

Faulheit/Trägheit/ übertriebene Passivität