Jedes Kind i(s)st anders – Warum Essenszwang Gewalt ist
Seit einigen Jahren biete ich das Seminar „Jedes Kind i(s)st anders“ für verschiedene Bildungsträger in Präsenz und auch online an – das Seminar bietet neben grundlegendem Fachwissen auch viel Raum für Austausch, Reflexion und Aha-Momente rund um das kindliche Essverhalten. Auch wenn sich viele pädagogische und elterliche Haltungen im Laufe der Jahre verändert haben, hält sich das ein oder andere alte Muster immer noch hartnäckig: Kinder zum Essen zu zwingen – sei es direkt („Jetzt iss doch wenigstens den Brokkoli!“) oder subtil („Nur wer alles probiert hat, bekommt Nachtisch.“).
Doch warum ist dieser Zwang noch so tief verankert in unserem Denken und Handeln – und warum ist es an der Zeit, das endgültig zu hinterfragen?
Die Wurzeln sitzen tief
Viele Erwachsene kennen es noch zu gut aus ihrer eigenen Kindheit: der leergegessene Teller als Zeichen von Anstand, das Probieren als Pflicht oder die Angst als „wählerisch“ zu gelten, wenn man etwas nicht mag. Diese Erfahrungen prägen – oftmals unbewusst – unser heutiges Verhalten gegenüber Kindern. Essen wird dann nicht mehr als Bedürfnisregulation verstanden, sondern wird zur Erziehungsmaßnahme. Wer sich nicht an die vorgegebene Spielregeln hält, gilt als „schwierig“ oder „verwöhnt“.
Was dabei vergessen wird: Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten mit individuellen Geschmäckern, sensorischen Empfindungen und Erfahrungen – ganz genau wie jeder erwachsene Mensch auch. Was aus unserer Sicht auf die Situation eher harmlos oder „normal“ wirkt, kann für das Kind in diesem Moment übergriffig, beschämend oder sogar angsteinflößend sein.
Zwang ist Gewalt – immer
In den Seminaren wird nicht selten deutlich: Viele Teilnehmende haben ein ungutes Gefühl bei „Probier-Regeln“ oder dem Druck am Esstisch. Trotzdem fällt es ihnen nicht immer leicht, alte Muster abzulegen oder sich gegen die Überzeugung anderer Kolleg:innen durchzusetzen.
Wichtig ist dabei immer das Wissen: Essen unter Druck ist keine Hilfe, sondern ein Übergriff auf die Autonomie des Kindes. Ein Kind zum Essen zu drängen, ihm Schuldgefühle zu machen oder es für seine Ablehnung zu bestrafen, ist nicht zulässig – es ist eine Form von psychischer Gewalt. Und Gewalt ist nicht verhandelbar.
Das ist keine Übertreibung, sondern eine klare Haltung, die wir als Gesellschaft einnehmen müssen. Wenn wir Kindern Respekt, Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit zugestehen wollen, dann fängt das beim Essen an – einem der intimsten und sensibelsten Bereiche des Lebens.
Und hier ist die Fürsorgepflicht und unser Schutzauftrag dem Kind gegenüber höher zu bewerten als die Loyalität den irgendwelchen Kolleg:innen gegenüber. Wir sind gesetztlich dazu verpflichtet, das Kind vor Gewalt und Überggriffigkeiten zu schützen. Das Kind ist auf diesen unseren Schutz angewiesen. Alleine kann es sich nicht gegen einen mächtigen Erwachsenen schützen. Unterlassen wir diese Unterstützung handeln wir uns letztlich gesetzwidrig.
Was stattdessen hilft
In Seminaren erarbeiten wir gemeinsam Alternativen: Wie kann man Vertrauen in das Kind entwickeln, wenn es bestimmte Speisen verweigert? Wie kann man Essenssituationen entspannen statt eskalieren lassen? Und wie lernen wir Erwachsenen, Kontrolle abzugeben?
Die wichtigste Erkenntnis: Kinder brauchen keinen Zwang, sondern Vorbilder, sichere Räume und das Recht, Nein zu sagen.
Zeit für einen Paradigmenwechsel
„Jedes Kind i(s)st anders“ ist mehr als ein nettes Wortspiel. Es ist ein Aufruf zum Umdenken. Die Achtung vor kindlicher Integrität darf nicht am Esstisch aufhören. Nur wenn wir lernen, Kontrolle durch Vertrauen zu ersetzen, können Kinder ein gesundes Verhältnis zu Essen – und zu sich selbst – entwickeln.
Und dafür braucht es Seminare, Gespräche, Mut zur Reflexion – und klare Haltungen.
Denn Esszwang ist keine Option!
Anja Cantzler
Hier gehts zur Vertiefung zum Podcast mit Monika Thiel und Katrin Krüger
auf YouTube: Folge 4 – Essenmit Freude
auf Spotify: Folge 014 – Freude am Essen
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