In meiner Praxis als Coach und Supervisorin geht es nicht selten um die Themen Grenzen erkennen, Grenzen benennen und Abgrenzung. Offensichtlich fällt es vielen meiner Coachees und Supervisanden gar nicht so einfach, ihre eigenen Grenzen zu vertreten. Aber warum ist das so? Warum fällt es vielen Menschen offensichtlich schwer Grenzen zu setzen und NEIN zu sagen?

Durch ein kollegiales Treffen mit den Kolleg*innen meiner Supervisionsausbildungsgruppe ist mir eine Supervisandin wieder in den Sinn gekommen, an deren Geschichte ich dich gerne teilhaben lassen möchte.  Vielleicht findest du ja Parallelen zu deinem eigenen Empfinden und einen Schlüssel, der dir auf deinem Weg zur eigenen Abgrenzung weiterhilft.

 

Warum fällt es so schwer Grenzen zu setzen?

 

Das kann viele Ursachen haben. Wenn jemand seine*ihre Grenzen gar nicht kennt, kann er*sie diese anderen gegenüber nicht kommunizieren. Die Grenzüberschreitung wird dann meist erst im Nachhinein wahrgenommen. Andere könnten ihre Grenzen zwar benennen, trauen es sich aber nicht

Andere wiederum kennen zwar ihre eigenen Grenzen, trauen sich aber nicht, sich entsprechend abzugrenzen. Sie haben Angst davor zurückgewiesen und abgelehnt zu werden. Dass andere ihre Grenzen überschreiten, ist für sie in diesem Moment leichter zu ertragen, als von anderen abgelehnt und kritisiert zu werden. Für die eigenen Grenzen und die damit verbundenen Bedürfnisse einzustehen und dadurch gegebenenfalls mit anderen in einen Konflikt zu geraten, ist für sie unaushaltbar.

 

Ein Beispiel aus meiner Praxis

 

Vor einigen Jahren begegnete ich Erika in einem meiner Seminare. Zur Auflockerung spielten wir das Ja- Nein Spiel. Bei diesem Spiel stellte es sich heraus, dass Erika sich selbst auf spielerischer Ebene schwer damit tat „Nein“ zu sagen. Darauf unter vier Augen angesprochen, erzählte sie, wie unglücklich sie damit sei, aber keinen Weg aus ihrem Dilemma kenne.

Wir vereinbarten eine Coachingsitzung, in der sie beklagte, dass ihre Kitaleitung und ihre Kolleg*innen sie mit Arbeit überschütteten. Nahezu täglich übernahm sie zusätzliche Dienste und Aufgaben, damit andere früher nach Hause gehen konnten. Sie sprang regelmäßig ein und war am Limit ihrer Kräfte. Sie fühlte sich ungerecht behandelt, ausgenutzt und der Situation hilflos ausgeliefert. Für Erika war es aus ihrer Vita heraus selbstverständlich, dass sie die Dienste übernahm und die Kolleg*innen unterstützte.

Aif der anderen Seite gab es aber nahezu nie die Situation, dass die Kolleg*innen ihr Aufgaben abgenommen hätten oder mit ihr den Dienst tauschten, wenn sie es gebraucht hätte. Trotz ihrer Frustration und er fehlenden Wertschätzung, nahm sie die Situation hin und versuchte sich so zu organisieren, dass sie nicht auf die Hilfe der anderen angewiesen war. Ähnliche Mechanismen wurden auch in ihren Beziehungen und Freundschaften sicthtbar.

Die Gesamtsituation wurde für Erika immer unerträglicher und machte sich bereits gesundheitlich bemerkbar: Kopfschmerzen, Verspannungen in Schultern, Hals und Nacken und ein immer häufiger auftretender Druck im Magen. Dies und der Schlüsselmoment aus der Fortbildung brachten sie dazu, etwas verändern zu wollen.

 

Eigene Grenzen wahrnehmen lernen

 

Damit dies geschen konnte, machte sich Erika sich ihrer aktuelle Situation bewusst. Wir erarbeiteten, was sie selbst dazu beitragen könnte, dass sich ihre Situation verändert. Natürlich war ihre erste Reaktion darauf, dass es doch nicht an ihr läge, sondern die anderen müssten sich ändern. Die Anderen müssten doch sehen, dass es ihr zu viel ist. Ich fragte sie: „Ist das wirklich so?  Können andere erkennen, dass es dir zu viel ist, wenn du selbst nie etwas dazu sagst?“  Sie erkannte, dass andere ihre Grenzen nicht kennen und somit auch nicht respektieren können, wenn selbst siet ihre eigenen Grenzen noch nicht wahrnimmt.

Nun ging es darum, sich ihre eigenen Grenzen bewusst zu machen. Wir erarbeiteten, wo es für sie anfing unangenehm und grenzüberschreitend zu werden und welches Verhalten für sie noch akzeptabel war. Sie lernte, die Signale ihres Körpers und ihre Gefühle rechtzeitig wahrzunehmen und zu deuten. Dadurch erkannte sie schrittweise, wann jemand ihre Grenzen überschritt.

Sich die eigene Grenzen zugestehen

 

Erika lernte zunehmend ihre eigenen Grenzen kennen und konnte sie wahrnehmen. Anfangs plagte sie immerwieder das schlechte Gewissen und die Zweifel und sie fragte: „Darf ich denn überhaupt NEIN sagen? Habe ich das Recht dazu?“ In diesen Momenten machte sich der geringe Selbstwert von Erika bemerkbar. Sie nahm andere Menschen grundsätzlich wichtiger als sich selbst. Sie stellte das Wohl der anderen über ihr eigenes Wohl. Gleichzeitig war sie frustriert, dass andere ihre Grenzen nicht respektierten und nicht so handeln, wie sie es gerne hätte.

Doch so funktioniert das nicht. Ich habe schon in vielen vorherigen Blogbeiträgen darauf hingewiesen, wie wichtig es gerade in deinem verantwortungsvollen Beruf ist, gut für dich selbst zu sorgen, um dann schließlich auch gut für die dir anvertrauten Kinder sorgen zu können. Du kannst andere nur unterstützen und dich um sie kümmern, wenn du selbst emotional und körperlich stabil bist.

Hier ein Beispiel, das du bestimmt schon mal bei Sicherheitshinweisen vor einem Flug gehört hast: „Bei einem Druckabfall in der Kabine fallen die Sauerstoffmasken herab. Bitte setzen Sie die Maske sofort auf, wenn sie herunterfällt. Erst die eigene, danach können Sie sich um andere kümmern.“

Erika lernte, wie wichtig eine gute Selbstfürsorge ist. Im Coaching arbeiteten wir entsprechend an ihrer Selbstfürsorge und ihrem Selbstwert. Durch einen Ausflug in ihre biografische Schleife zum Thema Grenzen und Nein sagen, konnte sie Verknüpfungen herstellen, Ursachen und Auslöser verstehen und Handlungsweisen verändern. Sie lernte sich selbst besser kennen und mit allen Stärken und Schwächen zu akzeptieren. Das führte dazu, dass sie mit sich selbst respekt- und liebevoller umging, sie ihre eigenen Grenzen besser wahrnehmen und sich diese auch zugestehen konnte.

 

Grenzen setzen

 

Im Alltag ging es dann darum, dass Beate nicht nur lernte, diese Grenzen wahrzunehmen, sondern diese auch klar mitzuteilen und einzufordern. In ihrem Fall ging es nun ganz konkret darum, wie sie sich gegen die ständigen Dientsttausch-Wünsche der Kolleg*innen wehren konnte. Hierfür bedurfte es eines gewissen Maßes an Konfliktfähigkeit, aushalten zu können, dass andere anderer Meinung und auch sauer sind.

In Erikas Fall sah das folgendermaßen aus:

  1. Sie traf feste Vereinbarungen mit sich selbst. So meldete sie sich zum Beispiel direkt für die Zeit nach Feierabend in einem Sportkurs an. Das half ihr gegenüber den Kolleg*innen höflich NEIN zu sagen: „Es tut mir leid. Heute kann ich leider nicht länger bleiben. Ich habe bereits einen Termin.“
  2. Sie lernte gezielt auf ihre Kolleg*innen zuzugehen und bat diese ihrerseits um Hilfe und Unterstützung. Auch wenn ihre Kolleg*innen nicht immer erfreut waren, lernte Erika mit dieser Reaktion umzugehen.
  3. Immer öfter konnte sie sich abgrenzen und lehnte zusätzliche Arbeit auch mal ab, indem sie sagte: „Ich würde es ja gerne tun, aber ich habe noch weitere dringende Aufgaben zu erledigen und deshalb dafür im Augenblick keine Zeit“.

 

Die Umwelt reagiert zunächst irritiert

 

Die Kolleg*innen waren zunächst irritiert und fanden, dass Erika auf einmal so zickig war. Es wurden Vermutungen angestellt, dass dies mit ihren Wechseljahren zusammen hängen könnte. Da Erika jedoch standhaft blieb, veränderten die Kolleg*innen ihr Verhalten und fragten Erika nicht mehr jedes Mal. Es dauert gut ein Jahr, bis in einem Mitarbeitendegespräch, die Kitaleitung sogar Anerkennung aussprach für das veränderte Verhalten von Erika.

Rückschritte sind Teil der Entwicklung

 

Natürlich war der Weg in den 3 Jahren, die ich Erika begleitete nicht immer gradlinig. Maches Mal saß sie gerade im ersten Jahr frustriert vor mir, weil sie wieder einmal in ein altes Muster gefallen war. Aber ähnlich der Entwicklung von Kindern, findet auch diese Entwicklung nicht immer linear statt. Wichtig ist einfach dran zu bleiben und nach und nach die vermeindlichen Stolpersteine in Edelsteine umzuwandeln.

Ich weiß nicht, wie es die folgenden Jahre für Erika weitergegangen ist. Mittlerweilen dürfte sie in ihrem wohlverdienten Ruhestand sein. Ich habe auf jeden Fall viel von ihr gelernt und sie und ihre Geschichte begleiten mich in unterschiedlichsten Zusammenhängen.

So hat sie auch einen Platz in dem neuen Buch „Sich seiner SELBST BEWUSST SEIN“ von Lea Wedewardt und mir gefunden. In dem Kapitel „Erfahrungen mit Autonomie und Selbständigkeit reflektieren“ erfährst du mehr darüber, warum es auch für die Arbeit mit den Kindern so wichtig ist, sich selbst und seine Geschichte zu reflektieren. Ergänzend dazu gibt es noch ein Workbook zur vertiefenden Selbstreflexion.

Und denk dran, immer erst die eigene Sauerstoffmaske anlegen…

Deine Anja

 

Buchtipp

Lea Wedewardt/ Anja Cantzler: Sich seiner SELBST BEWUSST SEIN, Herder (2022)
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Lea Wedewardt/ Anja Cantzler: Workbook – Sich seiner SELBST BEWUSST SEIN, Herder (2022)