Alles Provokation oder was? – Warum Kinder zwischen 0 und 6 Jahren nicht provozieren können

In meinen Seminaren begegne ich immer wieder Fachkräften aus Krippe, Kita oder der Kindertagespflege, die sich von den vielfältigen Verhaltensweisen der Kinder herausgefordert fühlen. Nicht selten werden dann bestimmte Verhaltensweisen wie Wutausbrüche, Widerstand oder das Ignorieren von Regeln schnell als „provokant“ empfunden. Doch provokatives Verhalten im eigentlichen Sinne setzt bestimmte neurobiologische und kognitive Entwicklungsschritte voraus, die sich bei Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren und darüber hinaus erst entwickeln. Warum das so ist, wo die eigentliche Herausforderung liegt und wie du dich im Umgang mit diesen Situationen selbst reflektieren kannst, möchte ich in diesem Blogartikel näher beleuchten.

Können Kinder provozieren? Ein Blick auf die Neurobiologie

Kinder entwickeln sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig und emotional in rasantem Tempo. Das Gehirn eines Kindes ist jedoch bis ins junge Erwachsenenalter noch nicht vollständig ausgereift. Der präfrontale Kortex, der für Impulskontrolle, Planen und Abwägen von Konsequenzen verantwortlich ist, entwickelt sich erst ab dem Schulalter und ist erst etwa im Alter von etwa 25 Jahren voll funktionstüchtig. (vgl. Bercht, 2023)

Was bedeutet das für den Umgang mit vermeintlich „provokantem“ Verhalten?

Kinder zwischen 0 und 6 Jahren handeln impulsiv: Sie folgen primär ihren emotionalen Wünschen und Bedürfnissen. Langfristig zu planen und ihr Verhalten strategisch einzusetzen entwickelt sich zu einem späteren Zeitpunkt. Erst dann ist es ihnen möglich andere bewusst zu verletzen oder herauszufordern.

Das Verständnis für Konsequenzen, Empathiefähigkeit und der Perspektivwechsel entwickeln sich erst später. Kinder handeln oftmals aus Neugier, Frustration oder Überforderung und nicht, um absichtlich Ärger zu machen. Ein Verhalten, das Erwachsene als „provokativ“ deuten, ist für Kinder meist ein Ausdruck ihrer momentanen Emotionen oder ihrer Bedürfnisse.

Provoziert werden vs. sich provoziert fühlen

Der entscheidende Unterschied liegt in der Perspektive. Wenn wir uns von einem Kind provoziert fühlen, sagt das oft mehr über uns selbst aus als über das Verhalten des Kindes.

Provoziert werden: Dies impliziert eine bewusste Absicht der anderen Person, jemanden zu reizen oder zu verletzen. Ein junges Kind hat jedoch weder die kognitiven noch die emotionalen Fähigkeiten, solche Absichten zu entwickeln.

Sich provoziert fühlen: Dieses Gefühl entsteht durch unsere eigene Interpretation des Verhaltens des Gegenübers. Unsere eigenen Erfahrungen, Werte und Überzeugungen spielen hierbei eine entscheidende Rolle.

Die Bedeutung der Selbstreflexion

Warum empfinden wir ein bestimmtes Verhalten als so belastend oder herausfordernd? Oft hat das mit unseren eigenen biografischen Prägungen zu tun. Möglicherweise erinnert uns das Verhalten eines Kindes an eigene schwierige Erfahrungen, an ungelöste Konflikte oder an Regeln, die uns in der Kindheit vermittelt wurden. Durch Selbstreflexion können wir herausfinden, warum wir in bestimmten Situationen so reagieren und wie wir unsere Haltung verändern können.

Reflexionsfragen für den pädagogischen Alltag

1. Welche Gefühle löst das Verhalten des Kindes in mir aus?

Fühle ich mich respektlos behandelt, überfordert oder angegriffen? Woher kenne ich das Gefühl, respektlos behandelt zu werden? Wer hat mich respektlos behandelt in meiner Kindheit und Jugend? In welchen Situationen habe ich mich als Kind oder Jugendliche überfordert oder angegriffen gefühlt? Wer hat das ausgelöst?

2. Welche Werte und Überzeugungen prägen meine Reaktion?

Welche Verhaltensweisen empfinde ich als „respektlos“ oder „nicht hinnehmbar“? Kommen
diese Überzeugungen aus meiner eigenen Erziehung? Welche Rolle spielen sie in meiner heutigen Arbeit?

3. Welche Wünsche oder Bedürfnisse stehen hinter dem Verhalten des Kindes?

Möchte das Kind weiterspielen? Soll die Fachkraft es beim Anziehen helfen? Oder wüscht es sich in den Arm genommen zu werden? Ist das Kind wütend, müde, überfordert, hungrig oder braucht es Zuwendung? Wie kann ich diese Wünsche und Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen?

4. Wie reagiere ich auf das Verhalten des Kindes?

Wirke ich ruhig und wertschätzend oder werde ich laut und ungeduldig? Welche Wirkung könnte meine Reaktion auf das Kind haben?

5. Wie fühle ich mich nach der Situation?

Habe ich das Gefühl, angemessen reagiert zu haben, oder ärgere ich mich über mich selbst? Was hätte ich anders machen können?

6. Welche biografischen Bezüge erkenne ich?

Gibt es in meinem Leben konkrete Erlebnisse und Erfahrungen, die meine Wahrnehmung und mein professionelles Handeln beeinflussen? Wie kann ich diese erkennen und aufarbeiten?

Ein Perspektivwechsel hilft

Stellen Sie sich vor, das Verhalten des Kindes wäre nicht gegen Sie gerichtet, sondern ein Ausdruck seiner momentanen Lebensrealität. Diese Haltung ermöglicht es Ihnen, empathisch und gelassen zu reagieren. Ein Kind, das sich auf den Boden wirft, schreit und dabei an seine und unsere Grenzen stößt, will nicht provozieren, sondern zeigen, dass es Unterstützung, Verständnis oder Sicherheit braucht.

Pädagogische Haltung: Stark durch Reflexion

Eine reflektierte Haltung ermöglicht es dir, das Verhalten des Kindes besser zu verstehen und konstruktiv darauf zu reagieren. Diese Haltung wirkt nicht nur deeskalierend, sondern fördert auch eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen mit Verständnis und Geduld begegnen, gerade in herausfordernden Momenten.

Um den Kindern ein zugewandtes und versehendes Gegenüber zu sein, ist es wichtig, sich als Fachkraft selbst Zeit für diese Reflexion zu nehmen. Besprich schwierige Situationen im Team, nimm eine Supervision in Anspruch oder führe ein Reflexionstagebuch. So kannst du deine pädagogische Arbeit kontinuierlich weiterentwickeln und Kinder liebevoll und professionell begleiten.

Denn am Ende gilt: Kinder provozieren nicht – sie zeigen uns, was sie brauchen. Unsere zentrale Aufgabe als Fachkraft ist es, die Botschaft zu entschlüsseln und das Kind bestmöglich in seiner Entwicklung zu begleiten.

Deine Anja

Zur Vertiefung:

Cantzler, A. (2023): Schätze finden statt Fehler suchen, Herder.

Cantzler, A. (2021): Jetzt grinst der mich auch noch frech an

Quellen:

Bercht, A. (2023): Wann ist das Gehirn erwachsen? Aus Spektrum.de https://www.spektrum.de/frage/wann-ist-das-gehirn-erwachsen/2201094 (letzter Zugriff: 10.01.2025)

(Traumapädagogische) Interaktionsanalyse: Lösungsfokussierte Reflexion für herausfordernde Situationen

In der pädagogischen Arbeit begegnen Fachkräfte häufig Kindern, die durch ihr Verhalten an die Grenzen des Erwachsenen stoßen. Dabei kann es immer wieder zu intensiven Momenten kommen, in denen das Verhalten des Kindes nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die Fachkraft emotional belastend und schwer zu handhaben ist. Genau hier setzt die Interaktionsanalyse an – ein reflektiver Ansatz, der nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern auch das eigene Handeln der Fachkraft in den Fokus nimmt.

Die Bedeutung des eigenen Verhaltens

Eine zentrale Überzeugung dieser Interaktionsanalyse lautet: „Wenn ich möchte, dass das Kind sein Verhalten ändert, muss ich zuerst prüfen, ob ich mein Verhalten gegenüber dem Kind verändern sollte.“ Diese Herangehensweise zielt darauf ab, das Verhalten der Fachkraft als Teil der Dynamik zu verstehen. Denn das Verhalten des Kindes und das der Fachkraft stehen in einer ständigen Wechselwirkung.

Kinder, die herausforderndes Verhalten zeigen, reagieren oft besonders empfindsam auf bestimmte Verhaltensweisen von Erwachsenen. Dies bedeutet, dass jede Reaktion der Fachkraft in diesen Situationen eine direkte oder indirekte Gegenreaktion beim Kind auslösen kann. Wenn also ein Kind durch sein Verhalten immer wieder an die Belastungsgrenze der Fachkraft stößt, ist es hilfreich, nicht nur das Verhalten des Kindes zu analysieren, sondern auch das eigene Handeln.

Schrittweise Reflexion

Die (traumapädagogische) Interaktionsanalyse (n. Schmid) so wie ich Sie in meiner traumapädagogischen Weiterbildung kennenlernen durfte, beginnt in der Regel mit der detaillierten Beschreibung einer konkreten Situation: Wo hat sich die Situation abgespielt? Was hat das Kind gemacht? Wie hat die Fachkraft reagiert? Welche Gefühle wurden ausgelöst? Dabei wird nacheinander das Verhalten aus beiden Perspektiven betrachtet – der des Kindes und der der Fachkraft.

Hierbei stellt sich die Frage: Was trage ich als Fachkraft dazu bei, dass das Kind auf eine bestimmte Weise reagiert? Indem man diesen Blickwinkel einnimmt, wird die Fachkraft nicht nur zu einer:m passiven Beobachter:in, sondern auch zu einem aktiven Teil der Situation. Diese Perspektive schafft Raum für Veränderungen im eigenen Verhalten, die wiederum die Dynamik zwischen Fachkraft und Kind positiv beeinflussen können.

Lösungsfokussierte Herangehensweise

Nach der Analyse der Situation geht es um Lösungen – bedürfnissorientiert und konstruktiv. Der Fokus liegt darauf, alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch die der Fachkraft berücksichtigen. Besonders bei Kindern, die durch sie belastende Erlebnisse geprägt sind, ist es entscheidend, dass ihre emotionalen und beziehungsorientierten Bedürfnisse im Zentrum stehen.

Fragen, die in dieser Phase der Reflexion helfen können, sind zum Beispiel:

Was ist der „gute Grund“ für das Verhalten des Kindes?
Häufig verbirgt sich hinter dem herausfordernden Verhalten eines Kindes ein emotionales Bedürfnis, das in der Vergangenheit vielleicht nicht ausreichend erfüllt wurde. Hier geht es darum, dieses Bedürfnis zu erkennen und ihm auf alternative Weise gerecht zu werden.

Wie kann ich als Fachkraft meine Reaktionen so anpassen, dass das Kind neue Handlungsoptionen erlernt?
Anstatt impulsiv oder automatisch auf das Verhalten des Kindes zu reagieren, lohnt es sich, innezuhalten und zu überlegen, welche Handlung dem Kind helfen könnte, sich sicherer und verstanden zu fühlen.

Wie kann das Bindungs- und Beziehungsbedürfnis des Kindes in der Situation erfüllt werden?
In der pädagogischen Arbeit spielt die Beziehungsebene eine zentrale Rolle. Kinder benötigen Sicherheit und Stabilität in der passenden Balance zu Autonomie und Mitbestimmung. Eine Fachkraft, die diese Bedürfnisse erkennt und entsprechend handelt, kann präventiv dazu beitragen, Eskalationen zu vermeiden.

Die Fachkraft im Fokus

Neben der Analyse des kindlichen Verhaltens darf jedoch der Blick auf das eigene Befinden der Fachkraft nicht zu kurz kommen. Die Zusammenarbeit mit Kinderen, deren Verhalten herausfordernd ist, ist oft für Fachkraft emotional herausfordernd. Fachkräfte sind nicht nur professionelle Begleiter, sondern auch Menschen mit eigenen emotionalen Reaktionen, Bedürfnissen und Grenzen. Daher ist es wichtig, im Rahmen der Reflexion auch sich selbst zu fragen:

  • Welche Gefühle wurden in mir ausgelöst?
  • Wie kann ich besser mit diesen Emotionen umgehen, um auch in der nächsten Situation gelassen und professionell zu handeln?
  • Welche Unterstützung benötige ich, um mich gestärkt zu fühlen?

Diese Selbstreflexion trägt maßgeblich dazu bei, dass Fachkräfte langfristig handlungsfähig bleiben und den Kindern die notwendige Stabilität bieten können.

Fazit: Veränderung beginnt bei uns

Die Interaktionsanalyse ist für mich zu einer wertvollen Methode in meinen Seminaren geworden, um herausfordernde Situationen nicht nur besser zu verstehen, sondern auch lösungsorientiert darauf zu reagieren. Dabei geht es vor allem darum, als Fachkraft den eigenen Anteil an der Dynamik zu erkennen und Handlungsalternativen zu entwickeln, die sowohl dem Kind als auch einem selbst helfen.

Indem wir unser eigenes Verhalten reflektieren und gezielt anpassen, schaffen wir die Grundlage für positive Verhaltensänderungen beim Kind. So können wir dazu beitragen, dass belastende Situationen nicht zu Eskalationen führen, sondern zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und einer stabileren Beziehungsebene.

Veränderung beginnt bei uns – und genau das ist der zentrale Schlüssel für eine Beziehungs- und verstehensorientierte Pädagogik.

Mehr dazu findet ihr auch in meinen Buch: Schätze finden statt Fehler suchen, das 2023 im Herder Verlag erschienen ist.