Der Dunning-Kruger-Effekt und seine Bedeutung im Umgang mit pädagogischem Populismus
In bildungspolitischen Debatten, auf Elternabenden oder in sozialen Netzwerken tauchen sie immer wieder auf: einfache Lösungen für komplexe pädagogische Fragen. Sätze wie „Früher hat das doch auch funktioniert“, „Kinder brauchen nur klare Regeln und Grenzen“ oder „Inklusion kann doch gar nicht klappen“ prägen viele Diskussionen. Was auf den ersten Blick wie gesunder Menschenverstand klingt, entpuppt sich oft als Ausdruck eines größeren Problems: pädagogischer Populismus. Und dieser wiederum lässt sich durch ein bekanntes psychologisches Phänomen besser verstehen – den Dunning-Kruger-Effekt.
Was ist der Dunning-Kruger-Effekt?
Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt eine Verzerrung der Wahrnehmung, bei der Menschen mit weniger Kompetenz oder begrenzterem Wissen dazu neigen, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zu überschätzen. Gleichzeitig neigen Personen mit einem umfangreicheren Expert:innenwissen dazu, ihre Kenntnisse eher zu unterschätzen. Das rührt oftmals daher, dass diese Personen sich der Komplexität eines Themas bewusst sind. Sie wissen, dass sie nicht alles wissen können.
Dieses Missverhältnis zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kompetenz lässt sich in vier Phasen beschreiben:
Die vier Phasen des Dunning-Kruger-Effekts:
Gipfel der Selbstüberschätzung („Mount Stupid“): Die Person zeichnet sich durch wenig Wissen und viel Selbstbewusstsein aus. Sie glaubt, die Lösung bereits zu kennen – und äußert sich entsprechend lautstark und überzeugt.
Tal der Verzweiflung: In dieser Phase tauchen zunehmend Zweifel tauchen auf, weil Widersprüche oder komplexe Zusammenhänge erkennbar werden. Das Selbstvertrauen bezüglich des tatsächlichen Wissens sinkt rapide.
Pfad der Erleuchtung: Mit wachsendem Wissen wächst auch die Demut. Die Person erkennt, dass es nicht nur den einen Weg bzw. die eine Lösung gibt.
Plateau der Nachhaltigkeit/ Kompetenz: Die Person hat sich eine echte und umfassende Expertise angeeignet. Sie ist geprägt von einem realistischen Selbstbild, der gründlichen Differenzierungsfähigkeit und fachlicher Tiefe.
Pädagogischer Populismus trifft Dunning-Kruger
In vielen Bildungsdebatten zeigt sich dieser Dunning-Kruger-Effekt zunehmend und wird aus den unterschiedlichsten Richtungen gespeist und bedient: Im pädagogischen Alltag zeigt sich dies bei Menschen mit wenig pädagogischem Fachwissen oder ohne Einblick in aktuelle wissenschaftliche Diskurse, die trotzdem besonders überzeugt auftreten und auf ihren Standpunkten beharren. Dies geschieht oftmals, weil ihnen die Tiefe und Vielschichtigkeit der pädagogischer Prozesse schlichtweg nicht bekannt bzw. nicht bewusst ist.
Beispiele:
Ein Elternteil findet es völlig in Ordnung, mit einem Kind auch mal laut zu schimpfen, weil „das ihm selbst ja auch nicht geschadet hat.“.
Politiker*innen fordern „mehr Grenzen und Regeln, weniger Kuschelpädagogik“, ohne empirische Belege.
Medien greifen einzelne Extremfälle auf und stilisieren sie zu allgemeinen Wahrheiten.
In all diesen Fällen wird pädagogische Komplexität durch vermeintlich klare, einfache Aussagen ersetzt – oft verbunden mit Emotionen, Moral und nostalgischen Rückblicken.
Und warum fällt es Fachkräften schwer, dagegenzuhalten?
Es ist oftmals so schwer etwas dagegegn zu halten, weil gute Pädagogik selten einfache Antworten hat. Wer sich mit Bildung, Lernen, Entwicklung, Differenzierung und Inklusion beschäftigt, weiß, dass pädagogische Entscheidungen fast immer Kontexte, Perspektiven und Widersprüche berücksichtigen müssen. Diese vorsichtige, differenzierte Haltung wirkt im öffentlichen Diskurs jedoch oft zögerlich und unklar – und wird leicht übertönt.
Als Fachkraft sagen wir dann Dinge wie:
„Das kommt auf den Einzelfall an.“
„Dazu gibt es keine eindeutige Antwort.“
„Wir müssen verschiedene Perspektiven betrachten.“
Solche Sätze sind fachlich korrekt – aber in einer lauten Debattenkultur schwer zu vermitteln.
Was hilft gegen pädagogischen Populismus?
Bildung und Aufklärung: Mut, die eigene Fachlichkeit öffentlich sichtbarer und hörbarer zu machen. Es geht darum, die evidenzbasierten Argumente möglichst verständlich und nachvollziehbar zu kommunizieren, ohne überheblich zu wirken.
Medienkompetenz stärken: Es gilt Meinung von Fachwissen zu unterscheiden und gerade in komplexen Fachfragen nachfragen, wenn das Gegenüber es sich allzu einfach macht.
Mut zur Differenzierung: Auch in schwierigen Diskussionen gilt es Haltung zeigen. Die Kunst besteht darin zuzuhören, Gemeinsamkeiten herauszustellen – ohne sich auf populistische Vereinfachungen einzulassen.
Empathie mitdenken: Der Dunning-Kruger-Effekt ist kein Beweis für Dummheit, sondern ein Hinweis auf unbewusste Kompetenzlücken. Diese lassen sich ansprechen – respektvoll, aber bestimmt.
Fazit:
Pädagogischer Populismus lebt von einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Der Dunning-Kruger-Effekt hilft, diese Dynamiken besser zu verstehen – und zeigt: Lautstärke ersetzt keine Kompetenz. Gerade im Bildungsbereich brauchen wir mehr Raum für fachlichen Tiefgang, weniger für Stammtischrhetorik. Denn wer wirklich etwas von Pädagogik versteht, weiß: Bildung ist selten einfach – und immer wichtig!
Seit einigen Jahren biete ich das Seminar „Jedes Kind i(s)st anders“ für verschiedene Bildungsträger in Präsenz und auch online an – das Seminar bietet neben grundlegendem Fachwissen auch viel Raum für Austausch, Reflexion und Aha-Momente rund um das kindliche Essverhalten. Auch wenn sich viele pädagogische und elterliche Haltungen im Laufe der Jahre verändert haben, hält sich das ein oder andere alte Muster immer noch hartnäckig: Kinder zum Essen zu zwingen – sei es direkt („Jetzt iss doch wenigstens den Brokkoli!“) oder subtil („Nur wer alles probiert hat, bekommt Nachtisch.“).
Doch warum ist dieser Zwang noch so tief verankert in unserem Denken und Handeln – und warum ist es an der Zeit, das endgültig zu hinterfragen?
Die Wurzeln sitzen tief
Viele Erwachsene kennen es noch zu gut aus ihrer eigenen Kindheit: der leergegessene Teller als Zeichen von Anstand, das Probieren als Pflicht oder die Angst als „wählerisch“ zu gelten, wenn man etwas nicht mag. Diese Erfahrungen prägen – oftmals unbewusst – unser heutiges Verhalten gegenüber Kindern. Essen wird dann nicht mehr als Bedürfnisregulation verstanden, sondern wird zur Erziehungsmaßnahme. Wer sich nicht an die vorgegebene Spielregeln hält, gilt als „schwierig“ oder „verwöhnt“.
Was dabei vergessen wird: Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten mit individuellen Geschmäckern, sensorischen Empfindungen und Erfahrungen – ganz genau wie jeder erwachsene Mensch auch. Was aus unserer Sicht auf die Situation eher harmlos oder „normal“ wirkt, kann für das Kind in diesem Moment übergriffig, beschämend oder sogar angsteinflößend sein.
Zwang ist Gewalt – immer
In den Seminaren wird nicht selten deutlich: Viele Teilnehmende haben ein ungutes Gefühl bei „Probier-Regeln“ oder dem Druck am Esstisch. Trotzdem fällt es ihnen nicht immer leicht, alte Muster abzulegen oder sich gegen die Überzeugung anderer Kolleg:innen durchzusetzen.
Wichtig ist dabei immer das Wissen: Essen unter Druck ist keine Hilfe, sondern ein Übergriff auf die Autonomie des Kindes. Ein Kind zum Essen zu drängen, ihm Schuldgefühle zu machen oder es für seine Ablehnung zu bestrafen, ist nicht zulässig – es ist eine Form von psychischer Gewalt. Und Gewalt ist nicht verhandelbar.
Das ist keine Übertreibung, sondern eine klare Haltung, die wir als Gesellschaft einnehmen müssen. Wenn wir Kindern Respekt, Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit zugestehen wollen, dann fängt das beim Essen an – einem der intimsten und sensibelsten Bereiche des Lebens.
Und hier ist die Fürsorgepflicht und unser Schutzauftrag dem Kind gegenüber höher zu bewerten als die Loyalität den irgendwelchen Kolleg:innen gegenüber. Wir sind gesetztlich dazu verpflichtet, das Kind vor Gewalt und Überggriffigkeiten zu schützen. Das Kind ist auf diesen unseren Schutz angewiesen. Alleine kann es sich nicht gegen einen mächtigen Erwachsenen schützen. Unterlassen wir diese Unterstützung handeln wir uns letztlich gesetzwidrig.
Was stattdessen hilft
In Seminaren erarbeiten wir gemeinsam Alternativen: Wie kann man Vertrauen in das Kind entwickeln, wenn es bestimmte Speisen verweigert? Wie kann man Essenssituationen entspannen statt eskalieren lassen? Und wie lernen wir Erwachsenen, Kontrolle abzugeben?
Die wichtigste Erkenntnis: Kinder brauchen keinen Zwang, sondern Vorbilder, sichere Räume und das Recht, Nein zu sagen.
Zeit für einen Paradigmenwechsel
„Jedes Kind i(s)st anders“ ist mehr als ein nettes Wortspiel. Es ist ein Aufruf zum Umdenken. Die Achtung vor kindlicher Integrität darf nicht am Esstisch aufhören. Nur wenn wir lernen, Kontrolle durch Vertrauen zu ersetzen, können Kinder ein gesundes Verhältnis zu Essen – und zu sich selbst – entwickeln.
Und dafür braucht es Seminare, Gespräche, Mut zur Reflexion – und klare Haltungen.
Denn Esszwang ist keine Option!
Anja Cantzler
Hier gehts zur Vertiefung zum Podcast mit Monika Thiel und Katrin Krüger
In meinen Seminaren begegne ich immer wieder Fachkräften aus Krippe, Kita oder der Kindertagespflege, die sich von den vielfältigen Verhaltensweisen der Kinder herausgefordert fühlen. Nicht selten werden dann bestimmte Verhaltensweisen wie Wutausbrüche, Widerstand oder das Ignorieren von Regeln schnell als „provokant“ empfunden. Doch provokatives Verhalten im eigentlichen Sinne setzt bestimmte neurobiologische und kognitive Entwicklungsschritte voraus, die sich bei Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren und darüber hinaus erst entwickeln. Warum das so ist, wo die eigentliche Herausforderung liegt und wie du dich im Umgang mit diesen Situationen selbst reflektieren kannst, möchte ich in diesem Blogartikel näher beleuchten.
Können Kinder provozieren? Ein Blick auf die Neurobiologie
Kinder entwickeln sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig und emotional in rasantem Tempo. Das Gehirn eines Kindes ist jedoch bis ins junge Erwachsenenalter noch nicht vollständig ausgereift. Der präfrontale Kortex, der für Impulskontrolle, Planen und Abwägen von Konsequenzen verantwortlich ist, entwickelt sich erst ab dem Schulalter und ist erst etwa im Alter von etwa 25 Jahren voll funktionstüchtig. (vgl. Bercht, 2023)
Was bedeutet das für den Umgang mit vermeintlich „provokantem“ Verhalten?
Kinder zwischen 0 und 6 Jahren handeln impulsiv: Sie folgen primär ihren emotionalen Wünschen und Bedürfnissen. Langfristig zu planen und ihr Verhalten strategisch einzusetzen entwickelt sich zu einem späteren Zeitpunkt. Erst dann ist es ihnen möglich andere bewusst zu verletzen oder herauszufordern.
Das Verständnis für Konsequenzen, Empathiefähigkeit und der Perspektivwechsel entwickeln sich erst später. Kinder handeln oftmals aus Neugier, Frustration oder Überforderung und nicht, um absichtlich Ärger zu machen. Ein Verhalten, das Erwachsene als „provokativ“ deuten, ist für Kinder meist ein Ausdruck ihrer momentanen Emotionen oder ihrer Bedürfnisse.
Provoziert werden vs. sich provoziert fühlen
Der entscheidende Unterschied liegt in der Perspektive. Wenn wir uns von einem Kind provoziert fühlen, sagt das oft mehr über uns selbst aus als über das Verhalten des Kindes.
Provoziert werden: Dies impliziert eine bewusste Absicht der anderen Person, jemanden zu reizen oder zu verletzen. Ein junges Kind hat jedoch weder die kognitiven noch die emotionalen Fähigkeiten, solche Absichten zu entwickeln.
Sich provoziert fühlen: Dieses Gefühl entsteht durch unsere eigene Interpretation des Verhaltens des Gegenübers. Unsere eigenen Erfahrungen, Werte und Überzeugungen spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
Die Bedeutung der Selbstreflexion
Warum empfinden wir ein bestimmtes Verhalten als so belastend oder herausfordernd? Oft hat das mit unseren eigenen biografischen Prägungen zu tun. Möglicherweise erinnert uns das Verhalten eines Kindes an eigene schwierige Erfahrungen, an ungelöste Konflikte oder an Regeln, die uns in der Kindheit vermittelt wurden. Durch Selbstreflexion können wir herausfinden, warum wir in bestimmten Situationen so reagieren und wie wir unsere Haltung verändern können.
Reflexionsfragen für den pädagogischen Alltag
1. Welche Gefühle löst das Verhalten des Kindes in mir aus?
Fühle ich mich respektlos behandelt, überfordert oder angegriffen? Woher kenne ich das Gefühl, respektlos behandelt zu werden? Wer hat mich respektlos behandelt in meiner Kindheit und Jugend? In welchen Situationen habe ich mich als Kind oder Jugendliche überfordert oder angegriffen gefühlt? Wer hat das ausgelöst?
2. Welche Werte und Überzeugungen prägen meine Reaktion?
Welche Verhaltensweisen empfinde ich als „respektlos“ oder „nicht hinnehmbar“? Kommen diese Überzeugungen aus meiner eigenen Erziehung? Welche Rolle spielen sie in meiner heutigen Arbeit?
3. Welche Wünsche oder Bedürfnisse stehen hinter dem Verhalten des Kindes?
Möchte das Kind weiterspielen? Soll die Fachkraft es beim Anziehen helfen? Oder wüscht es sich in den Arm genommen zu werden? Ist das Kind wütend, müde, überfordert, hungrig oder braucht es Zuwendung? Wie kann ich diese Wünsche und Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen?
4. Wie reagiere ich auf das Verhalten des Kindes?
Wirke ich ruhig und wertschätzend oder werde ich laut und ungeduldig? Welche Wirkung könnte meine Reaktion auf das Kind haben?
5. Wie fühle ich mich nach der Situation?
Habe ich das Gefühl, angemessen reagiert zu haben, oder ärgere ich mich über mich selbst? Was hätte ich anders machen können?
6. Welche biografischen Bezüge erkenne ich?
Gibt es in meinem Leben konkrete Erlebnisse und Erfahrungen, die meine Wahrnehmung und mein professionelles Handeln beeinflussen? Wie kann ich diese erkennen und aufarbeiten?
Ein Perspektivwechsel hilft
Stellen Sie sich vor, das Verhalten des Kindes wäre nicht gegen Sie gerichtet, sondern ein Ausdruck seiner momentanen Lebensrealität. Diese Haltung ermöglicht es Ihnen, empathisch und gelassen zu reagieren. Ein Kind, das sich auf den Boden wirft, schreit und dabei an seine und unsere Grenzen stößt, will nicht provozieren, sondern zeigen, dass es Unterstützung, Verständnis oder Sicherheit braucht.
Pädagogische Haltung: Stark durch Reflexion
Eine reflektierte Haltung ermöglicht es dir, das Verhalten des Kindes besser zu verstehen und konstruktiv darauf zu reagieren. Diese Haltung wirkt nicht nur deeskalierend, sondern fördert auch eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen mit Verständnis und Geduld begegnen, gerade in herausfordernden Momenten.
Um den Kindern ein zugewandtes und versehendes Gegenüber zu sein, ist es wichtig, sich als Fachkraft selbst Zeit für diese Reflexion zu nehmen. Besprich schwierige Situationen im Team, nimm eine Supervision in Anspruch oder führe ein Reflexionstagebuch. So kannst du deine pädagogische Arbeit kontinuierlich weiterentwickeln und Kinder liebevoll und professionell begleiten.
Denn am Ende gilt: Kinder provozieren nicht – sie zeigen uns, was sie brauchen. Unsere zentrale Aufgabe als Fachkraft ist es, die Botschaft zu entschlüsseln und das Kind bestmöglich in seiner Entwicklung zu begleiten.
Deine Anja
Zur Vertiefung:
Cantzler, A. (2023): Schätze finden statt Fehler suchen, Herder.
Cantzler, A. (2021): Jetzt grinst der mich auch noch frech an
In der pädagogischen Arbeit begegnen Fachkräfte häufig Kindern, die durch ihr Verhalten an die Grenzen des Erwachsenen stoßen. Dabei kann es immer wieder zu intensiven Momenten kommen, in denen das Verhalten des Kindes nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die Fachkraft emotional belastend und schwer zu handhaben ist. Genau hier setzt die Interaktionsanalyse an – ein reflektiver Ansatz, der nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern auch das eigene Handeln der Fachkraft in den Fokus nimmt.
Die Bedeutung des eigenen Verhaltens
Eine zentrale Überzeugung dieser Interaktionsanalyse lautet: „Wenn ich möchte, dass das Kind sein Verhalten ändert, muss ich zuerst prüfen, ob ich mein Verhalten gegenüber dem Kind verändern sollte.“ Diese Herangehensweise zielt darauf ab, das Verhalten der Fachkraft als Teil der Dynamik zu verstehen. Denn das Verhalten des Kindes und das der Fachkraft stehen in einer ständigen Wechselwirkung.
Kinder, die herausforderndes Verhalten zeigen, reagieren oft besonders empfindsam auf bestimmte Verhaltensweisen von Erwachsenen. Dies bedeutet, dass jede Reaktion der Fachkraft in diesen Situationen eine direkte oder indirekte Gegenreaktion beim Kind auslösen kann. Wenn also ein Kind durch sein Verhalten immer wieder an die Belastungsgrenze der Fachkraft stößt, ist es hilfreich, nicht nur das Verhalten des Kindes zu analysieren, sondern auch das eigene Handeln.
Schrittweise Reflexion
Die (traumapädagogische) Interaktionsanalyse (n. Schmid) so wie ich Sie in meiner traumapädagogischen Weiterbildung kennenlernen durfte, beginnt in der Regel mit der detaillierten Beschreibung einer konkreten Situation: Wo hat sich die Situation abgespielt? Was hat das Kind gemacht? Wie hat die Fachkraft reagiert? Welche Gefühle wurden ausgelöst? Dabei wird nacheinander das Verhalten aus beiden Perspektiven betrachtet – der des Kindes und der der Fachkraft.
Hierbei stellt sich die Frage: Was trage ich als Fachkraft dazu bei, dass das Kind auf eine bestimmte Weise reagiert? Indem man diesen Blickwinkel einnimmt, wird die Fachkraft nicht nur zu einer:m passiven Beobachter:in, sondern auch zu einem aktiven Teil der Situation. Diese Perspektive schafft Raum für Veränderungen im eigenen Verhalten, die wiederum die Dynamik zwischen Fachkraft und Kind positiv beeinflussen können.
Lösungsfokussierte Herangehensweise
Nach der Analyse der Situation geht es um Lösungen – bedürfnissorientiert und konstruktiv. Der Fokus liegt darauf, alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch die der Fachkraft berücksichtigen. Besonders bei Kindern, die durch sie belastende Erlebnisse geprägt sind, ist es entscheidend, dass ihre emotionalen und beziehungsorientierten Bedürfnisse im Zentrum stehen.
Fragen, die in dieser Phase der Reflexion helfen können, sind zum Beispiel:
Was ist der „gute Grund“ für das Verhalten des Kindes? Häufig verbirgt sich hinter dem herausfordernden Verhalten eines Kindes ein emotionales Bedürfnis, das in der Vergangenheit vielleicht nicht ausreichend erfüllt wurde. Hier geht es darum, dieses Bedürfnis zu erkennen und ihm auf alternative Weise gerecht zu werden.
Wie kann ich als Fachkraft meine Reaktionen so anpassen, dass das Kind neue Handlungsoptionen erlernt? Anstatt impulsiv oder automatisch auf das Verhalten des Kindes zu reagieren, lohnt es sich, innezuhalten und zu überlegen, welche Handlung dem Kind helfen könnte, sich sicherer und verstanden zu fühlen.
Wie kann das Bindungs- und Beziehungsbedürfnis des Kindes in der Situation erfüllt werden? In der pädagogischen Arbeit spielt die Beziehungsebene eine zentrale Rolle. Kinder benötigen Sicherheit und Stabilität in der passenden Balance zu Autonomie und Mitbestimmung. Eine Fachkraft, die diese Bedürfnisse erkennt und entsprechend handelt, kann präventiv dazu beitragen, Eskalationen zu vermeiden.
Die Fachkraft im Fokus
Neben der Analyse des kindlichen Verhaltens darf jedoch der Blick auf das eigene Befinden der Fachkraft nicht zu kurz kommen. Die Zusammenarbeit mit Kinderen, deren Verhalten herausfordernd ist, ist oft für Fachkraft emotional herausfordernd. Fachkräfte sind nicht nur professionelle Begleiter, sondern auch Menschen mit eigenen emotionalen Reaktionen, Bedürfnissen und Grenzen. Daher ist es wichtig, im Rahmen der Reflexion auch sich selbst zu fragen:
Welche Gefühle wurden in mir ausgelöst?
Wie kann ich besser mit diesen Emotionen umgehen, um auch in der nächsten Situation gelassen und professionell zu handeln?
Welche Unterstützung benötige ich, um mich gestärkt zu fühlen?
Diese Selbstreflexion trägt maßgeblich dazu bei, dass Fachkräfte langfristig handlungsfähig bleiben und den Kindern die notwendige Stabilität bieten können.
Fazit: Veränderung beginnt bei uns
Die Interaktionsanalyse ist für mich zu einer wertvollen Methode in meinen Seminaren geworden, um herausfordernde Situationen nicht nur besser zu verstehen, sondern auch lösungsorientiert darauf zu reagieren. Dabei geht es vor allem darum, als Fachkraft den eigenen Anteil an der Dynamik zu erkennen und Handlungsalternativen zu entwickeln, die sowohl dem Kind als auch einem selbst helfen.
Indem wir unser eigenes Verhalten reflektieren und gezielt anpassen, schaffen wir die Grundlage für positive Verhaltensänderungen beim Kind. So können wir dazu beitragen, dass belastende Situationen nicht zu Eskalationen führen, sondern zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und einer stabileren Beziehungsebene.
Veränderung beginnt bei uns – und genau das ist der zentrale Schlüssel für eine Beziehungs- und verstehensorientierte Pädagogik.
Mehr dazu findet ihr auch in meinen Buch: Schätze finden statt Fehler suchen, das 2023 im Herder Verlag erschienen ist.
Die Zeit des Ankommens ist sowohl für die neuen Kinder und ihre Familien als auch für die anderen Kinder der Gruppe eine intensive Zeit voller Veränderungen und Emotionen. In dieser Zeit wird die Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem neuen Kind und den neuen Beziehungspersonen, gelegt. Ein zentraler Aspekt, der während dieser Phase oft unterschätzt wird, ist die Co-Regulation – und hier spielt das Tragen eine durchaus entscheidende Rolle.
Was ist Co-Regulation?
Co-Regulation beschreibt den Prozess, bei dem eine andere Person einem Kind hilft, seine Emotionen und sein Verhalten zu regulieren. Für kleine Kinder, die ihre Emotionen noch nicht selbstständig steuern können, ist diese Unterstützung durch eine vertraute Person essenziell. Durch physische Nähe und emotionalen Beistand kann ein Kind lernen, seine Gefühle zu ordnen und auf stressige Situationen angemessen zu reagieren.
Die Rolle des Tragens in der Co-Regulation
Das Tragen, sei es in einem Tragetuch oder einer Tragehilfe, bietet eine einzigartige Möglichkeit zur Co-Regulation. Das Tragen ermöglicht dem Kind:
Sicherheit und Geborgenheit: Es vermittelt dem Kind ein starkes Gefühl von Sicherheit. In einer ungewohnten Umgebung oder in stressigen Situationen bietet der Körperkontakt ein Gefühl von Geborgenheit, was dabei hilft, Ängste und Unsicherheiten zu lindern.
Stärkung der Bindung: Das Tragen fördert die Bindung zwischen Kind und Fachkraft. Diese Bindung ist gerade in der Eingewöhnungsphase entscheidend, da sie dem Kind das Vertrauen gibt, sich auf die neuen Erfahrungen einzulassen.
Regulation von Stress: Körperliche Nähe durch Tragen kann den Stresslevel eines Kindes signifikant senken. Der gleichmäßige Herzschlag der Bezugsperson und die Körperwärme tragen dazu bei, dass das Kind sich entspannen und beruhigen kann.
Förderung des Vertrauens: Indem das Kind durch das Tragen unmittelbar auf seine Bedürfnisse hin beruhigt und getröstet wird, entwickelt es Vertrauen in die Fachkraft. Es lernt, dass diese zuverlässig auf seine Signale reagiert, was es ihm erleichtert, sich den anderen Kindern zu nähern und in der neuen Umgebung anzukommen.
Tragen während der Eingewöhnung
In der Eingewöhnungsphase kann das Tragen eine Brücke zwischen der bekannten und der neuen Welt des Kindes schlagen. Besonders in den ersten Tagen kann das Tragen dabei helfen, dem Kind den Übergang zu erleichtern. Die körperliche Nähe zur Bindungsperson gibt dem Kind die Möglichkeit, sich aus einer sicheren Position heraus an die neue Umgebung zu gewöhnen. Vom Arm der Bindungsperson kann es alles beobachten und deutlich signalisieren, wann es diesen sicheren Hafen verlassen möchte, um die Welt selbständig zu erkunden.
Bei dem morgentlichen Wechsel von der Familie in die Kindergruppe geschieht dies nicht selten vom Arm der Bindungsperson rüber zum Arm der Fachkraft. So bildet das Getragen Sein hier eine Brücke, um sanft ankommen zu können.
Darüber hinaus kann das Tragen auch den Fachkräften in der Kindertagesstätte oder bei der Tagespflege helfen, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Wenn das Kind von Anfang an Nähe und Körperkontakt als beruhigend erlebt hat, fällt es ihm oftmals leichter, sich auch auf die Nähe einer neuen Beziehungsperson einzulassen.
Ich selbst durfte in meiner Zeit als Fachkraft erfahren, wie wertvoll es war, dass meine Kolleg:innen bereit waren, mit Hilfe von Tragetüchern, die Kinder durch den KitaAlltag zu tragen und zwar immer dann, wenn die Kinder diese Form der Co-Regulation brauchten. Und auch unsere etwas älteren Kinder kamen ab und zu in den Genuß, auf diese Weise Zuspruch und Nähe zu bekommen und immer mit dabei sein zu können. Für meine Kolleg:innen war das vor gut 20 Jahren das Normalste von Welt und den Kindern ging es sehr gut damit. Gleichzeitig konnte ich beobachten, wie selbständig und sicher genau diese Kinder sich entwickelten und die Kita für sich eroberten.
Fazit
Das Tragen ist weit mehr als nur eine praktische Möglichkeit, ein Kind von A nach B zu transportieren. Es ist ein essenzielles Werkzeug der Co-Regulation, das Kindern hilft, emotionale Stabilität und Sicherheit zu finden, insbesondere in Übergangsphasen wie der Eingewöhnung. Eltern und Betreuungspersonen sollten das Tragen bewusst als Mittel nutzen, um die Eingewöhnungszeit so sanft und positiv wie möglich zu gestalten. Denn ein gut reguliertes Kind ist bereit, die Welt zu entdecken und neue Beziehungen zu knüpfen.
Wenn Du neugierig geworden bist. Dann empfehle ich dir in meinen neuen KitaTalk reinzuhören, der am 12.09.2024 auf YouTube, spotify und hier auf meiner Website erscheint: Geborgen&Getragen mit Kira Daldrop – einer Trage- und Familienberaterin.
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