„Wie lange dauert traurig sein?“ – Interview über Abschied, Tod und Trauer (1)
In meinem Blogbeitrag „Übergänge gestalten – (Wieder)Ankommen in der Kita“ habe ich darüber geschrieben, dass Eure Kinder nach so langer Zeit mit den unterschiedlichsten Befindlichkeiten und Stimmungen z.B. Freude, Angst, Wut oder Trauer in die Kita zurückkehren. Eure Krippen und Kita-Kinder befinden sich altersentsprechend mitten in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung. Alles was sie in dieser Phase erleben, wirkt auf ihre Persönlichkeitsentwicklung. Emotionssausdruck, Emotionswissen und Emotionsregulierung sind die zentralen Lern- und Entwicklungsaufgaben. Die Kinder brauchen gerade in dieser Phase eine feinfühlige Begleitung durch Erwachsene, die den unterschiedlichen Emotionen Raum geben und den Kindern zuhören.
Am liebsten würden viele von Euch die unangenehmen Gefühle und Erinnerungen, die mit den zurückliegenden Wochen verknüpft sind, hinter sich lassen und mit den Kindern eine schöne Zeit verbringen. Das ist durchaus richtig und wichtig. Schaut trotzdem genau hin, welches Kind in den nächsten Tagen und Wochen starke Erwachsene braucht, die diesen unangenehmen Gefühlen genauso viel Stellenwert einräumen wie den angenehmen Gefühlen. Gebt ihnen dadurch das Gefühl, dass auch diese Emotionen sein dürfen.
Ich möchte hier in diesem Blog, Gefühlen wie Trauer, Angst und Wut ganz bewusst Beachtung schenken. Daher freue ich mich, Euch diese Woche an einem Interview mit Vanessa Pivit (V.P.), die als Erzieherin und Trauerbegleiterin arbeitet, teilhaben zu lassen.
Das Interview
A.C.: Du bist Erzieherin und Trauerbegleiterin. Wie bist Du zu dieser Kombination der Professionen gekommen?
V.P.: Ich bin seit 1994 mit Leib und Seele Erzieherin. Ich wusste seit meiner Kindheit, dass ich mit Kindern arbeiten möchte und bis heute liebe ich diese Arbeit. Aufgrund verschiedener persönlicher und emotionaler Erfahrungen merkte ich 2014, dass ich etwas in meinem Leben verändern möchte. Ein Prospekt vom Ambulanten Hospiz und Palliativdienst brachte mich auf einen neuen Weg. Ich begann eine Weiterbildung zur Sterbebegleiterin. Menschen auf dem letzten Weg zu begleiten, sprach mich sofort im Herzen an. Es war eine große Herausforderung und Bereicherung zugleich, schon alleine dadurch, dass ich mich sehr viel mit mir selbst und meiner Lebensgeschichte auseinandersetzte. Leider merkte ich schon bei der ersten Begleitung, dass ich für diese Aufgabe nicht die richtige Person bin. Nach 10 Minuten auf der Intensivstation erlitt ich einen Kreislaufkollaps und bündelte die Zuwendung der Ärzte und Pflegerinnen auf meine Person. Dies sollte für meinen Geschmack eine einmalige Erfahrung bleiben. Meine „Ausbilderin“ empfahl mir daraufhin, mich als Trauerbegleiterin weiterzubilden. So begann ich meine Weiterbildung zur Trauerbegleiterin für Kinder und Jugendliche bei der Akademie des Kinder- und Jugendhospizes Olpe. Trotz der Widerstände in meinem persönlichen Umfeld bin ich diesen Weg weitergegangen und das hat viel bzgl. meiner Haltung und meines Handelns verändert.Neben meiner Vollzeitstelle im Kindergarten fuhr ich an 8 Wochenenden nach Olpe in ein Kloster. Der Kontakt mit den anderen Teilnehmer*innen war sehr intensiv und emotional. Eine anstrengendeund sehr bereichernde Zeit.
A.C.: Wie verstehst Du Deine Rolle als Trauerbegleiterin?
V.P.: Die Trauerbegleitung ist ein sensibler Bereich, der einem „liegen“ muss. Empathie für das Gegenüber und das Annehmen seiner Situation zählt zu den Grundwerten. In Trauerzeiten sind wir mitunter in einer anderen Verfassung als üblich. Als Trauerbegleiterin musste ich lernen mich abzugrenzen. Das war und ist für mich nicht immer ganz leicht, Empathie und Mitgefühl nur bis zu einem gewissen Grad zu zeigen. Das ist ein langer und andauernder Lernprozess. Als Trauerbegleiterin habe ich die Aufgabe, den Menschen in seinem Trauerprozess als neutrale Frau zur Seite zu stehen. Ihn in seiner Trauer anzunehmen, auszuhalten und Möglichkeiten der Verarbeitung auf dem Trauerweg zu geben. Es geht um die Erkenntnis und Annahme, dass es dazugehört, ein Leben lang um einen Verstorbenen zu trauern. Der Trauernde kommt schrittweise zu der Erkenntnis, dass das, was sich dabei verändern wird, die Intensität der Traurigkeit ist. Deshalb verstehe ich mich in erster Linie als Begleiterin. Es geht nicht darum, die Trauer zu bewältigen, sondern es geht darum, andere Wege zu finden, um dem Verstorbenen einen neuen Platz im Leben der Hinterbliebenen zu geben. Das ist ein großer Unterschied.
A.C.: Während meiner Zeit als Pädagogische Fachkraft und Leitung in der Kita habe ich die Erfahrung gemacht, dass Themen wie Tod und Trauer Tabuthemen in unserer Gesellschaft sind. Viele Erwachsene tun sich selbst schwer darüber zu sprechen. Oftmals sind sie der Meinung, dass Kinder den Tod noch nicht verstehen und vermeiden es die Kinder miteinzubeziehen. Wie erlebst Du das als Erzieherin einerseits und als Trauerbegleiterin andererseits?
V.P.: Als ich mich für die Weiterbildung entschied, traf ich bei Familie, Freunden und Arbeitskollegen oft auf Erstaunen und Befremden. Reaktionen wie: „Wow, so ein schweres Thema. Hut ab.“, begegnete ich häufig. Stimmt, Trauer und Tod sind schwere Themen, wenn wir sie schwer machen. Ich habe diese Reaktionen erst einmal so stehen lassen. Ich entwickelte das Vertrauen, dass sich mein Gegenüber weiter mit den Gedanken beschäftigt. Daraus entwickelten sich oftmals schöne intensive Gespräche über eigene Verluste und Erfahrungen. Dadurch haben sich viele Beziehungen und Freundschaften sehr verändert. Als Erzieherin muss ich sagen, dass seitens der Kita-KollegInnen diesen Themen oftmals weniger Offenheit und Verständnis entgegengebracht wird. Gespräche miteinander oder mit Kinder und Eltern hierzu finden seltener statt. Umgang mit Trauer und Trauerbegleitung haben wenig Raum in der Arbeit. Da empfinde ich das Tabu stärker. In der Zusammenarbeit mit Eltern erlebe ich Interesse und Offenheit gepaart mit der Unsicherheit, wieviel sie ihrem Kind zumuten können. Dazu später noch ein bisschen mehr.
A.C. Ich persönlich durfte das als Kind anders erleben. Meine Eltern haben mich von Anfang an mit zu Beerdigungen genommen. Sie haben mir sehr offen vorgelebt, mit Tod und auch der damit verbundenen Trauer umzugehen. Du arbeitest in Deiner Profession als Trauerbegleiterin mit unterschiedlichsten Familien zusammen. Warum ist es aus Deiner Sicht wichtig, dass mit Kindern Tod und Trauer angesprochen und bearbeitet werden?
V.P.: Der Tod gehört zum Leben dazu. Kinder sind von Natur aus neugierig und wissbegierig. Sie erleben fast täglich Trauersituationen. Sie sehen den toten Vogel, die überfahrene Katze am Straßenrand. Sie wollen wissen, was passiert ist und was mit dem toten Tier weiter geschieht. Wo kommt es hin, wo lebt es weiter… Die englische Hilfsorganisation „Winstons Wish“ hat eine Charta für trauernde Kinder und Jugendliche entwickelt. Dort wird in 10 Punkten aufgelistet, dass Kinder u.a. das Recht auf eine kindgerechte, angemessene Information haben und in Entscheidungen mit einbezogen werden sollten. Ein weiteres Recht, das ihnen zugestanden wird, besteht darin, ihre Geschichte erzählen und ihre Gefühle ausleben zu dürfen.
Die Praxis erlebe ich persönlich stellenweise anders. Kindern wird seltener die Möglichkeit gegeben, selbst zu entscheiden, ob sie z.B. den Verstorbenen noch einmal sehen oder mit zur Beerdigung gehen möchten. Oftmals erhalten sie nicht einmal die Gelegenheit, ihre Fragen stellen zu können. Das passiert in der Regel aus bester Absicht. Eltern wollen Kinder beschützen. Erwachsene meinen irrtümlicherweise, dass Kinder das Geschehene nicht mitbekommen. Aber Kinder spüren, wenn etwas nicht dem „Normalablauf“ entspricht. Kinder brauchen diese wichtigen Erfahrungen, den Umgang mit schwierigen Situationen zu erlernen, und die kindgerechte Begleitung dabei. Sie müssen lernen mit dem Geschehenen und den damit verbundenen Gefühlen umzugehen. Vermutlich wird das Kind durchaus verunsichert reagieren, weinen und sich vielleicht auch vorübergehend mit Rückzug oder Aggression verhalten. All das gehört dazu und ist völlig normal. Es geht uns Erwachsenen doch ganz ähnlich bei unbekannten Ereignissen. Und da spreche ich nicht mal vom Tod. Ungewohntes und Neues braucht seine Zeit, um seinen Platz in unserem Inneren zu bekommen. Abschied nehmen von etwas Vertrautem und Liebgewonnen fällt schwer. Die Erwachsenen sind auf diesem Weg wichtige Vorbilder und Begleiter für die Kinder.
A.C.: Wie erleben Kinder im Alter von 0-6 Jahren den Tod? Wie gehen sie damit um?
V.P.: Jedes Kind sollte in seinem eigenen kognitiven und sozial emotionalen Entwicklungsstand gesehen werden und behandelt werden. Jedes Kind hat eine andere Herangehensweise an die jeweilige Situation. Das eine Kind stürmt gleich neugierig und interessiert drauf los und das nächste Kind braucht mehr Begleitung und Erklärung. So erleben auch Kinder den Tod sehr unterschiedlich. Schon in einem Alter von 6 Monaten können Kinder ein verändertes Verhalten an ihren Eltern wahrnehmen und in ihrem eigenen Verhalten spiegeln. Das Bindungsverhältnis ist stark beeinflusst von den Emotionen, die die Eltern aussenden. Vom 6. – 18. Lebensmonat verstehen Kinder erste Ansätze von Trauer, wenn jemand nicht wieder kommt. Sie sehen den Tod jedoch noch als etwas Vorübergehendes an. Sie haben noch keine Vorstellung von der Endlichkeit. Die Person ist weg, sie erwarten deren Wiederkommen. Zwischen 3 bis 5 Jahren kann man mit Kindern bereits über den Tod und dessen Bedeutung sprechen. Die Dauerhaftigkeit des Todeseins erahnen sie aber erst ab 6 Jahren. Sie beginnen dann zu verstehen, dass der Verstorbene nicht mehr wiederkommen wird. Ab 9 Jahren bis zum 12. Lebensjahr verstehen Kinder die Realität des Todes und entwickeln ein normales Interesse an den biologischen Aspekten des Todes. Sie erfragen Einzelheiten zum Sterben, Tod sein und zur Beerdigung. 13- jährige entwickeln schließlich eine ähnliche Denkweise und Vorstellung wie der Erwachsene. Während der Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, nur soweit auf Fragen zu antworten, die die Kinder konkret stellen. Kinder und Jugendliche kennen unbewusst ihre eigenen Grenzen. Sie fragen in der Regel nur so viel, wie sie verarbeiten können. Sie brauchen die Chance auf ihre Art und Weise zu trauern und ihre Gefühle entsprechend zeigen zu können. Unterdrückte Trauer macht einsam und hilflos. Daraus können Verlustängste, Wut, Schuldgefühle, verändertes Sozialverhalten, Trennungsängste etc. entstehen. Daher braucht das Kind einfühlsame und feinfühlige Erwachsene, die es in seiner Befindlichkeit begleiten können.
Wenn mich beispielsweise die Tochter einer Freundin anschreibt und fragt, ob es nach 2 Jahren ohne den geliebten Opa in Ordnung ist, dass sie ihn vermisst und auch manchmal weint, dann weiß ich, dass die Eltern vieles richtig gemacht haben. Sie haben ihr Kind wahr und ernst genommen, um es gut begleiten.
A.C.: Wie zeigen Krippen- und Kindergartenkinder ihre Trauer? Was unterscheidet das kindliche Verhalten von dem des Erwachsenen?
V.P.: Wie eben schon erwähnt, leben Kinder ihr Leben neugierig, offen und spontan. Ganzheitlich und gefühlsbetont. Fähigkeiten, die bei Erwachsenen über die Jahre oftmals verloren gegangen sind. Kinder stellen ihre Fragen, weil die Fragen für sie in diesem Moment wichtig sind und sie JETZT eine Antwort haben möchten. Kinder orientieren sich an den Erwachsenen und „lesen“ in Ihnen wie in einem Buch. Sie spüren auch, ob sie ehrliche Antworten bekommen oder ob etwas vor ihnen verheimlicht wird. Trauer ist ein wichtiger und notwendiger Zwischenschritt der Heilung und Verarbeitung des Geschehenen. Trauer heißt, von Gefühlen gepackt, traurig und verzweifelt zu sein, die gemeinsame Zeit mit dem Verstorbenen in Gedanken passieren zu lassen und langsam ein Leben ohne ihn zu gestalten. Durch den schmerzlichen Prozess lösen wir uns von der alten Lebenssituation und finden neue Wege und Möglichkeiten. Kinder stellen manchmal Fragen, mit denen wir nicht rechnen. Sie switchen dann auch schnell wieder um. Wenn wir denken, sie waren gerade noch beim Verlust, sind sie im nächsten Moment schon bei einem ganz anderen Thema. Ja, so ist Kindertrauer. Schnelllebig, sprunghaft und gut. Kinder gehen da mit dem ihnen eigenen kindlichem Humor dran und das sollten wir auch in angemessener Art und Weise mit ihnen tun. In der Trauer sollte auch der Humor einen wichtigen Platz haben. Es ist einfach schön, wenn man über eine Anekdote und eine gemeinsame Erinnerung lachen kann, nicht wahr? (Ende des 1. Teils)
Humor als Schlüssel
Letzterem kann ich nur beipflichten. Auch in der Trauer geht vieles mit Humor leichter. Und wie mein Coaching – Ausbilder Heinrich Fallner immer sagt: „Tiefe muss nicht schwer sein.“
Ich freue mich schon auf den 2. Teil des Interviews mit Vanessa, der morgen erscheint. Darin erfahrt ihr, wie Ihr als pädagogische Fachkräfte trauernde Kinder und ihre Familien unterstützen könnt.
Bis morgen
Eure Anja
Links: (zur Vertiefung)
https://www.familienhandbuch.de/familie-leben/schwierige-zeiten/tod-trauer/hilfreicheunterstuetzungfuertrauerndekinder.php
Kontaktdaten von Vanessa Pivit – Trauerbegleiterin
trauerbegleitung-pivit@t-online.de / Tel.: 0160 – 947 43 683
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