Seit vielen Jahren ist eines meiner größten Anliegen, Kinder mit ihren besonderen Bedürfnissen, Ressourcen und Kompetenzen wahrzunehmen und zu verstehen. Dies war mein Antrieb als junge pädagogische Fachkraft in der Kita und das ist bis heute die Basis meiner Arbeit als Weiterbildnerin, Coach und Supervisorin. In den zurückliegenden Jahren haben verschiedenste Menschen aus Theorie und Praxis tiefe Spuren in mir hinterlassen und meine Grundhaltung geprägt. So auch Remo Largo, der am 11.11.2020 zu meinem tiefsten Bedauern im Alter von 76 Jahren verstorben ist.
Wer war Remo Largo?
Remo Largo war ein Kinderarzt und Buchautor aus der Schweiz. Er wuchs in Winterthur auf und ging dort zur Schule. Besonders einschneidend waren seine ersten sechs Schuljahre bei einem überforderten und gewalttätigen Pädagogen, bei dem er, laut eigener Aussage, nahezu nichts gelernt habe. Später studierte er in Zürich und Los Angeles Medizin und Entwicklungspädiatrie. Ab 1978 übernahm er die Abteilung Wachstum und Entwicklung an der Universitäts-Kinderklinik Zürich. Die von ihm durchgeführten Zürcher Longitudinalstudien gehören zu den umfassendsten Studien in der Entwicklungsforschung weltweit und prägen bis heute unser Wissen über die kindliche Entwicklung.
Inwieweit hat Remo Largo unsere Pädagogik nachhaltig geprägt?
Remo Largo beschrieb als einer der ersten wissenschaftlich fundiert die Unterschiedlichkeit der Entwicklung von Kind zu Kind. Er räumte den „Meilensteinen der Entwicklung“ auf, die besagen, dass Kinder immer zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Entwicklungsmarken erreichen: Sitzen mit 6 Monaten, Krabbeln mit 9 Monaten und Laufen mit 12 Monaten – von wegen. Auf der Basis einer auf viele Jahre angelegten Beobachtungsstudie (den Zürcher Longitudinalstudien) wies er nach, dass der Zeitraum, in dem diese Kompetenzen je nach Kind erworben werden, viel breiter angelegt ist. So lernen die meisten Kinder irgendwo zwischen 10 und 20 Monaten das Laufen und irgendwann zwischen 13 und 31 Monaten die ersten Worte.
Gras wächst auch nicht schneller, wenn man dran zieht
Gemäß Remo Largos liebsten Zitats: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht.“, dürften wir eigentlich unseren Kindern viel mehr Zeit für Ihre Entwicklung geben und müssten uns nicht ständig in den Entwicklungsgesprächen auf mögliche Störungen und Entwicklungsverzögerungen fokussieren. Ergänzend hierzu betonte Remo Largo die Individualität eines jeden Kindes. Jedes Kind ist einzigartig mit seinen ganz besonderen Stärken und Fähigkeiten. Dieser Einzigartigkeit wird man nicht mit 0-8-15-Erwartungen oder 0-8-15 Institutionen gerecht.
Die Schule der Tiere
Besonders beeindruckend ist ein Cartoon und die damit verbundene Geschichte über die Schule der Tiere. In dieser Schule sind die verschiedenen Tiere vereint, die alle nach dem gleichen Curriculum unterrichtet werden. „So war zum Beispiel die Ente ausgezeichnet im Schwimmen, ja sie übertraf darin ihren Lehrer. Im Fliegen konnte sie gerade eben bestehen, aber im Laufen war sie schlecht. Darum erhielt sie intensiven Förder- und Nachhilfeunterricht, weshalb sie die meisten Unterrichtsstunden im Schwimmen ausfallen lassen musste. Nun aber sind die Füße der Ente für das Laufen nicht geschaffen, und alsbald rissen die Schwimmhäute zwischen den Zehen ein, so dass auch das Schwimmen nur mehr schlecht als recht klappte.“ Und auch die anderen Tiere müssen vieles tun, was sie eigentlich gar nicht können, wodurch ihre eigentlichen Fähigkeiten verkümmern. Kommt Dir das bekannt vor? 😉
Jedes Kind ist einzigartig
Remo Largo vertrat die Überzeugung, dass jedes Kind wegen seiner Einzigartigkeit seiner Stärken und Kompetenzen nur in einer Umwelt gedeihen kann, die seinen unverwechselbaren Anlagen und Fähigkeiten auch gerecht wird. Ist dies nicht gegeben, verkümmert das Kind in seiner Entwicklung. Es entwickelt in seinem Selbstbildnis, dass es dumm ist und nichts kann. Deswegen ist es so wichtig, das einzelne Kind in den Blick zu nehmen und wahrzunehmen, wo es gerade in seiner Entwicklung steht. Erst dann wird es uns gelingen, ihm eine passende Umgebung zu bieten und es in seiner ganz besonderen Individualität zu fördern. Nutzt Du Wahrnehmende Beobachtung, um Dein pädagogisches Handeln dann von diesen Beobachtungen ausgehend, auszurichten und zu gestalten?
Was uns bleibt…
Obwohl seine Stimme nun verstummt ist, bleiben uns seine zahlreichen Publikationen wie „Babyjahre“ und „Kinderjahre“, die wissenschaftlich fundiert und trotzdem gut verständlich geschrieben sind. Mit diesen Werken bleibt er für uns lebendig und wird hoffentlich noch viele weitere Generationen von Pädagogischen Fachkräften prägen, damit sie Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrnehmen und verstehen.
Für mich hat Remo Largo einen wesentlichen Grundstein für die Bedürfnisorientierte Pädagogik gelegt. Dieses Vermächtnis möchte ich gemeinsam mit Dir und vielen anderen pädagogischen Fachkräften weiterentwickeln. Damit zukünftig viele Kinder die Gelegenheit bekommen, frei nach meinem Motto: „Schatzsuche statt Fehlerfahndung“ ihre individuellen Ressourcen und Fähigkeiten zu entfalten.
Ich beende diesen Beitrag heute in tiefer Traurigkeit um den Verlust. Ich verspüre große Dankbarkeit für seinen Nachlass und gleichzeitig wachsende Zuversicht noch viel in seinem Sinne bewirken zu können. Er hat ein großes Denkmal in meinem Herzen und in dem vieler Anderer gesetzt.
Anja Cantzler
P.S. Hier findest du die Geschichte: „Die Schule der Tiere“ in voller Länge
(Daraus wurde auch die hier verwendete Textpassage entnommen)
+ Fobi Martina und Schmuck Alexandra