Kommt Dir das bekannt vor? Ein Kind schubst, haut oder beißt ein anderes Kind und grinst Dich dann breit an, wenn Du dazwischen gehst. Oder ein anderes Kind übertritt eine Regel, schaut zu Dir und grinst Dich auch noch an. Vermutlich kannst Du noch viele solcher Situationen aus Deinem Alltag aufzählen, in den Kinder mit Lächeln, breitem Grinsen oder gar lautem Lachen reagieren, ein Verhalten das für Dich in diesem Moment unangemessen ist. Hand aufs Herz: Du hast Dich bestimmt auch schon mal in einem solchen Moment sehr über dieses Lächeln, Grinsen oder Lachen geärgert und Dich von dem Kind provoziert gefühlt.
Lächeln als Verlegenheitsgeste
Während meiner Praxis als pädagogische Fachkraft habe ich mit Kindern im Alter von 0-14 Jahren gearbeit und dabei ist mir immer wieder aufgefallen, dass bei den meisten Kindern etwas ganz anderes hinter diesem vermeintlich „frechem Grinsen“ steht.
Vor einigen Jahren Habe ich dann erstmalig in einem Lehr-Video „Babys Signale“ von der Deutschen Liga fürs Kind habe ich dann erstmalig die Bestätigung gefunden, dass es ein „Verlegenheitslächeln“ bei Kindern gibt. Ein Lächeln, das Kinder zeigen, wenn sie verlegen oder verunsichert sind.
Das Video findest Du hier. Bei der näheren Beschäftigung mit diesem Verlegenheitslächeln habe ich dann viele verschiedene Auslöser für dieses Lächeln gefunden z.B. Verlegenheit, Scham, Verunsicherung, Erschrecken.
Schnell entdeckte ich auch Parallelen zu Verhaltensweisen von Erwachsenen. Wenn wir einmal genauer nachdenken, lächeln auch wir oftmals in Situationen, die uns peinlich oder unangenehm sind. Ich selbst kenne es durchaus auch, dass in mir Lachen aufsteigt, wenn ich mich in Situationen, in denen ein anderer sich verletzt oder stürzt, fürchterlich erschrecke. Aus Sorge, dass das mir als Schadenfreude ausgelegt werden könnte, versuche ich dieses Lachen zu unterdrücken, was mir aber nicht immer gelingt. Dieses Lachen ist in dem Augenblick dann wie eine Übersprungshandlung. Vielleicht kennst Du ja solche Situationen bei Dir selbst. Spür doch mal nach, wann hast Du das letzte Mal in einer Situation selbst den Kopf schief gelegt und Dein Gegenüber angelächelt, weil Dir gerade etwas unangenehm oder peinlich war. Oder wann Du das letzte Mal laut aufgelacht hast, wo Du eigentlich sehr erschrocken warst.
Neurowissenschaftliche Erklärung
Bei näherer Betrachtung handelt es sich hierbei um eine der klassischen Verlegenheits- bzw. Beschwichtigungsgesten. Darunter zählen: sich klein machen, sich leicht wegdrehen, den Kopf schief halten, den Blick senken und eben das Lächeln bzw. Lachen in seinen verschiedenen Facetten.
Das gehört zum ganz normalen Verhaltensrepertoire von uns Menschen.
Auf einer Fachtagung über „Neurowissenschaften und Coaching“ bekam ich dann bei dem Vortrag von Dr. Martin Meyer die neurowissenschaftliche Erklärung für dieses Verhalten. Dieses Lächeln wird demzufolge auch als „subdominantes Lächeln“ bezeichnet und führt uns zurück zu unserer evolutionären Entwicklung.
Schauen wir uns doch einfach mal unsere nächsten „Verwandten“ genauer an, um den Entwicklungsverlauf und die Überbleibsel besser zu verstehen. Wenn Halbaffen beispielsweise ihrem Gegenüber die Zähne zeigen, handelt es sich hier nicht, wir zunächst vielleicht vermuten, um eine Drohgebärde, sondern um eine ausgeprägte Beschwichtigung. Indem ein Halbaffe seine Zähne deutlich zeigt, signalisiert er, dass er diese nicht benutzen will. Denn wer breit grinst, kann seine Zähne gerade nicht zum Beißen verwenden. Auch bei den menschenähnlicheren Primaten, wie den Lemuren oder den Rhesusaffen, ist das Zeigen der Zähne eine ausgeprägte Demutsgeste. Und bei Pavianen gibt es sogar ein Beschwichtigungsritual – sie verbeugen sich, strecken dem Widersacher ihren Po entgegen, schmatzen laut und grinsen breit. Das soll dem dem anderen Signalisieren: „Ich entschuldige mich!“
Genau diese Beschwichtigungsgesten und -rituale sind bei uns Menschen rudimentär erhalten geblieben und bei Kindern oftmals noch ausgeprägter zu beobachten. Laut Dr. Meyer ist das hier beschriebene Lächeln verstärkt in hierarchischen Beziehungen und Abhängigkeiten , z.B. bei einem Kind in der Interaktion mit einem Erwachsener, zu beobachten. Demzufolge können wir uns mit wissenschaftlicher Unterstützung davon verabschieden, dass das Kind uns mit diesem Verhalten provozieren möchte.
Provokation ergibt für ein Kind keinen Sinn
Hilfreich ist auch, sich immer wieder zu verdeutlichen, dass ein bewusstes Provozieren erst dann möglich ist, wenn das Kind über ausreichend Empathie verfügt. Um jemanden absichtlich zu provozieren , muss das Kind sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines anderen einfühlen können. Dieser Perspektivwechsel ist entwicklungsgemäß erst mit etwa vier bis sechs Jahren der Fall (Theory of mind). Deswegen gilt für Kinder zwischen einem und vier Jahren also fast immer, dass es sich bei ihrem (vermeintlich) frechen Grinsen in de Regel um eine Beschwichtigungsgeste handelt.
Das Lachen eines Kindes in Konfliktsituationen macht uns oftmals wütend, weil wir es nicht als Beschwichtigung empfinden, sondern als Provokation. Das Grinsen wird vom Erwachsenen dann übersetzt mit: „Red doch soviel wie Du willst! Ich höre Dir sowieso nicht zu! Es ist mir völlig egal was Du sagst!“
Das stimmt in den meisten Fällen aber nicht, denn die eigentliche Botschaft des Kindes lautet: „Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun dürfen. Es tut mir leid, sei bitte nicht mehr ärgerlich“.
Versuch doch einfach das nächste Mal, wenn ein Kind Dich vermeintlich frech angrinst, mit „Oh, ich sehe, es tut Dir leid“ oder „Oh, ich merke, Es ist Dir unangenehm“ oder „Du weißt gerade gar nicht, was Du tun sollst“ zu reagieren. Ich bin schon gespannt, was Du dann berichten kannst, wie das Kind darauf reagiert hat. Du kannst mir gerne per Mail darüber berichten.
Im Laufe der Zeit habe ich zum Thema zusätzlich aufgesammelt, dass die vorsätzliche Provokation eigentlich gar nicht im Verhaltensrepertoire von Kindern vorgesehen ist. Evolutionsbiologisch und bindungstheoretisch gesehen ergibt es gar keinen Sinn, dass sich Kinder gegen Erwachsene, von denen sie abhängig sind, grundlos auflehnen. Für ein Kind ist es wenig sinnvoll, durch unangemessenes Verhalten diejenigen zu verärgern, die für ihr Überleben und Wohlergehen sorgen. Es liegt demzufolge überhaupt nicht in der Natur des Kindes, sich unkooperativ zu verhalten und Konflikte grundlos zu provozieren. Jesper Juul vertritt sogar die Meinung, dass Kinder eher zuviel mit den Erwachsenen kooperieren, manchmal auch mehr als es dem Kind selbst gut tut.
Das Prinzip des guten Grundes
Eine Kollegin hat einmal geäußert: „Alles, was mich länger als 15 Sekunden ärgert, hat mehr mit mir selbst zu tun, als mit meinem Gegenüber:“ Es lohnt durchaus, sich selbst zu reflektieren, was das Kind gerade in Dir triggert und womit Du in Kontakt kommst.
Und sollte ein Kind in Deiner Gruppe also das nächste Mal grinsen oder lachen, um tatsächlich zu provozieren, dann solltest Du gut überlegen, warum es das gerade tut. Möglicherweise ist sein Zuwendungs-und Aufmerksamkeitstank leer. Oder es ist gerade einfach mit der Situation überfordert und es findet keinen anderen Weg, dieses Bedürfnis auszudrücken. Manchmal sind Kinder dann in diesen Ausdrucksweisen gefangen und wissen keine andere Handlungsalternative, als weiter zu machen.
Versuch am besten die dahinterstehenden Bedürfnisse zu ergründen und diese für das Kind zu benennen. Ich nutze dazu gerne das „Prinzip des guten Grundes“, um diese tieferliegenden Bedürfnisse zu ergründen. Dazu habe ich bereits einen anderen Blogbeitrag geschrieben, in dem es im Kern zwar um die guten Gründe von Eltern geht. Der Ansatz ist jedoch genauso gut auf Kinder übertragbar.
So und jetzt freue ich mich über Dein Feedback und Deine Erfahrungen mit vermeintlich frechem Grinsen und provozierendem Verhalten. Schreib mir gerne hierzu etwas in die Kommentare. Vielleicht hast Du ja nach gute Tipps und Tricks, was Dir hilft, nicht in diese Provokationsfalle zu tappen und auf das Bedürfnis des Kindes eingehen zu können.
Deine Anja
Tipps zur Vertiefung des Themas:
Podcast: Feas Naive Welt
Buch: Kathrin Hohmann – Gemeinsam durch die Wut – Edition Claus, 2020
Vielen Dank für den interessanten Beitrag, das ist völlig neu für mich (bin noch in der Ausbildung). Mir fallen direkt zwei Kinder ein, bei denen das “ freche Grinsen“ sehr oft vorkommt und wo ich das ausprobieren kann, wie von Dir vorgeschlagen zu reagieren. Mal schauen, was passiert…
Ich freue mich auf weitere Rückmeldungen von Dir.
Ein sehr interessanter Artikel. Sehr einfach und dennoch informativ geschrieben. Das mit Jesper Juul kann ich nach langer pädagogische aber auch privater Erfahrungen bestätigen. Kinder kooperieren sehr viel und übergehen dabei oft ihre eigenen Grenzen nur um geliebt zu werden, was wahrscheinlich auf die Bindungstheorie der Evolution zurückzuführen ist. Wir Erwachsene meinen oft alle Fragen auf Kinder zu wissen. Wir haben viele Erfahrungen gesammelt und sind doch so engstirnig. Es sind unsere Erfahrungen und nicht die der Anderen. Ich habe mir angewöhnt Kinder zu fragen, was sie denken und fühlen. Ich habe mir abgewöhnt alles wissen zu müssen. Bei 25 Kindern in der Gruppe kann ich es nicht. Zumal es doch sehr von oben herab ist zu wissen, warum ein Kind aus bestimmten Gründen so handelt. Es ist es doch viel schöner, interessanter und wertschätzender mit Kindern in den Kontakt zu gehen. Ich war oft erstaunt welche guten Gründe Kinder haben, etwas – für uns oft nicht nachvollziehbar – zu machen. Ich werde mich demnächst mal genau beobachten wie es für mich ist, wenn ein Kind grinst. Hilfreich für mich ist aus dem Artikel, dass die Gefühlswelt dann zwischen mir und dem Kind nicht überlappend ist. Dass es keine Provokation ist, sondern ein Hilferuf.
vielen Dank für Deinen kommentar. Es freut mich, dass Du Dich in diesem Artikel wiederfindest. Und ich freue mich, Dir den Impuls mit auf dem Weg gegeben zu haben, Dich und Deine Gefühle genauer zu reflektieren, wenn Dich ein Kind angrinst.
Wie reagiert man darauf wenn das Kind sagt “ nein ich will mich damit nicht entschuldigen“?
Gruss Nic
Hier stellt sich mir die Frage, welches Alter du da im Kopf hast. Ein Kind, dass dir diese Antwort gibt, kannst du dann zurückfragen, was es denn damit ausdrücken möchte. Ehrlich gesagt, ist mir das aber so noch nicht im Elementarbereich begegnet.
Bei so etwas frage ich mich dann aber immer: WARUM hat es die Evolution so eingerichtet, dass wir die Signale des Kindes missverstehen? WARUM hat es die Evolution so eingerichtet, dass kleine Babys Eltern wachhalten, weil sie nur tagsüber schlafen wollen oder zumindest einen Großteil der Nacht wach sind, so dass die Eltern immer gestresster werden und damit ggf. auch aggressiv oder mit Rückzug reagieren könnten (Ruhe haben wollen)?
Da prallen doch Verhaltensweisen, Kommunikaitonsweisen und Bedürfnisse aufeinnader, die ohne Erklärung zu Wut, Frust, Verzweiflung und Aggression führen können – auf beiden Seiten. Eltern fühlen sich provoziert, werden wütend, Kind ist verunsichert, bekommt ggf. Angst vor den Eltern.
Warum ist es hier evolutionär nicht so gelaufen, dass Eltern und Kind sich gegenseitig gute Gefühle geben, wie beim Kindchenschema?
Oder sind wir dafür zu weit von unserer Natur und den natürlichen Gegebenheiten entfernt?
Ein Tier fühlt sich ja auch nur ganz selten mal vom Nachwuchs provoziert oder gestört und normalerweise nicht so, dass es ernstlich aggressiv gegen den Nachwuchs werden würde, sondern das Hundebaby wird dann bspw. mit einem Schubser in die Seite zurechtgewiesen. Also, bei Hunden und anderen Tieren scheint ja nicht das Gefühl aufzukommen, dass der Nachwuchs einem bewusst schlechte Gefühle vermitteln möchte. Warum passiert das bei uns?
Hallo, wir hatten heute diese Situation… nachdem ich meinem Sohn erklärt hatte etwas nicht zu machen und er machte es dann natürlich, ich dann wütend geworden bin hat er mich mal wieder ausgelacht… ich fragte ihn warum lachst du mich aus? – er (4 Jahre) ich weiß nicht Mama ich lach einfach! Indem Moment war ich irgendwie noch wütender… jetzt nach diesem Artikel ist es mir klar geworden und ich schäme mich für mein Mama verhalten!
Zunächst einmal Danke für deine Offenheit.Du musst dich nicht schämen. Wie dir geht es vielen Erwachsenen. Leider ist uns gesellschaftlich das Wissen abhanden gekommen, was Kinder damit tatsächlich zum Asdruck bringen. Geh zu deinem Sohn und sag ihm, dass du es nun besser weißt und dass es dir leid tut, dass du sein Lachen missverstanden hast. Hilf ihm sein Lachen in diesen Momenten besser zu verstehen. Das wird eure Beziehung stärken und darauf kommt es letztlich an.
Hallo
Ich bin total perplex. Es wird genau mein Kind beschrieben (6jahre). Wir werden sauer, schicken ihn ins Zimmer und er macht weiter. Jetzt hab ich das Lachen verstanden und ein schlechtes Gewissen.
Ich weiß das Kinder den Weg alleine nicht raus finden können und wir haben schon so viele Wege gesucht und sind gescheitert. Aus dieser Perspektive das er verunsichert ist, haben wir es noch nie gesehen. Vielen Dank und wir werden es auf jeden Fall versuchen.
Lieben Gruß
Es freut mich, dass der Artikel eine neue Sichtweise eröffnet. Und bitte vergiss das schlechte Gewissen, du wusstest es nicht besser. Und es zum Glück nie zu spät, etwas zu verändern.
Guten Morgen 🤗 Wie verhält sich dass dann bei einem 17 Jährigen? Es ist so, dass wir mit unserem Sohn oftmals ernsthafte Themen besprechen und er dann einfach anfängt und muss sich mit aller Kraft ein Grinsen und Lachen unterdrücken. Das finden wir als Eltern natürlich absolut unangebracht und werden dann oftmals lauter und fragen ihn was das soll. Man fühlt sich in dem Moment natürlich ausgelacht und nicht für ernst genommen. Wir reden dann auch darüber, er sagt dann meist, er kann es nicht steuern. Über eine Erklärung bei Jugendlichen wäre ich dankbar, damit wir die Situation besser händeln können♡
Liebe Natalie-
auch bei Jugendlichen, jungen Erwachsenen und bei uns Erwachsenen tritt dieses Subdominante Lächeln/ Lachen auf.
Es ist auch da ein Zeichen für Verunsicherung, sich in einer unangenehmen Situation fühlen und nicht selten auch ein Zeichen von Schamgefühl.
Dass dein Sohn sagt, dass er es nicht steuern kann, weist sehr deutlich darauf hin.
Vielleicht hilft dir einmal zu überlegen, wann du gelächelt oder gelacht hast, als dir etwas unangenehm war.
Dein sohn will dich nicht ärgern. Das du dich verätgert bist, hat mehr mit dir zu tun.
Ich hoffe, das hilft ersteinmal weiter.
Liebe Grüße
Anja