Alles Provokation oder was? – Warum Kinder zwischen 0 und 6 Jahren nicht provozieren können

In meinen Seminaren begegne ich immer wieder Fachkräften aus Krippe, Kita oder der Kindertagespflege, die sich von den vielfältigen Verhaltensweisen der Kinder herausgefordert fühlen. Nicht selten werden dann bestimmte Verhaltensweisen wie Wutausbrüche, Widerstand oder das Ignorieren von Regeln schnell als „provokant“ empfunden. Doch provokatives Verhalten im eigentlichen Sinne setzt bestimmte neurobiologische und kognitive Entwicklungsschritte voraus, die sich bei Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren und darüber hinaus erst entwickeln. Warum das so ist, wo die eigentliche Herausforderung liegt und wie du dich im Umgang mit diesen Situationen selbst reflektieren kannst, möchte ich in diesem Blogartikel näher beleuchten.

Können Kinder provozieren? Ein Blick auf die Neurobiologie

Kinder entwickeln sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig und emotional in rasantem Tempo. Das Gehirn eines Kindes ist jedoch bis ins junge Erwachsenenalter noch nicht vollständig ausgereift. Der präfrontale Kortex, der für Impulskontrolle, Planen und Abwägen von Konsequenzen verantwortlich ist, entwickelt sich erst ab dem Schulalter und ist erst etwa im Alter von etwa 25 Jahren voll funktionstüchtig. (vgl. Bercht, 2023)

Was bedeutet das für den Umgang mit vermeintlich „provokantem“ Verhalten?

Kinder zwischen 0 und 6 Jahren handeln impulsiv: Sie folgen primär ihren emotionalen Wünschen und Bedürfnissen. Langfristig zu planen und ihr Verhalten strategisch einzusetzen entwickelt sich zu einem späteren Zeitpunkt. Erst dann ist es ihnen möglich andere bewusst zu verletzen oder herauszufordern.

Das Verständnis für Konsequenzen, Empathiefähigkeit und der Perspektivwechsel entwickeln sich erst später. Kinder handeln oftmals aus Neugier, Frustration oder Überforderung und nicht, um absichtlich Ärger zu machen. Ein Verhalten, das Erwachsene als „provokativ“ deuten, ist für Kinder meist ein Ausdruck ihrer momentanen Emotionen oder ihrer Bedürfnisse.

Provoziert werden vs. sich provoziert fühlen

Der entscheidende Unterschied liegt in der Perspektive. Wenn wir uns von einem Kind provoziert fühlen, sagt das oft mehr über uns selbst aus als über das Verhalten des Kindes.

Provoziert werden: Dies impliziert eine bewusste Absicht der anderen Person, jemanden zu reizen oder zu verletzen. Ein junges Kind hat jedoch weder die kognitiven noch die emotionalen Fähigkeiten, solche Absichten zu entwickeln.

Sich provoziert fühlen: Dieses Gefühl entsteht durch unsere eigene Interpretation des Verhaltens des Gegenübers. Unsere eigenen Erfahrungen, Werte und Überzeugungen spielen hierbei eine entscheidende Rolle.

Die Bedeutung der Selbstreflexion

Warum empfinden wir ein bestimmtes Verhalten als so belastend oder herausfordernd? Oft hat das mit unseren eigenen biografischen Prägungen zu tun. Möglicherweise erinnert uns das Verhalten eines Kindes an eigene schwierige Erfahrungen, an ungelöste Konflikte oder an Regeln, die uns in der Kindheit vermittelt wurden. Durch Selbstreflexion können wir herausfinden, warum wir in bestimmten Situationen so reagieren und wie wir unsere Haltung verändern können.

Reflexionsfragen für den pädagogischen Alltag

1. Welche Gefühle löst das Verhalten des Kindes in mir aus?

Fühle ich mich respektlos behandelt, überfordert oder angegriffen? Woher kenne ich das Gefühl, respektlos behandelt zu werden? Wer hat mich respektlos behandelt in meiner Kindheit und Jugend? In welchen Situationen habe ich mich als Kind oder Jugendliche überfordert oder angegriffen gefühlt? Wer hat das ausgelöst?

2. Welche Werte und Überzeugungen prägen meine Reaktion?

Welche Verhaltensweisen empfinde ich als „respektlos“ oder „nicht hinnehmbar“? Kommen
diese Überzeugungen aus meiner eigenen Erziehung? Welche Rolle spielen sie in meiner heutigen Arbeit?

3. Welche Wünsche oder Bedürfnisse stehen hinter dem Verhalten des Kindes?

Möchte das Kind weiterspielen? Soll die Fachkraft es beim Anziehen helfen? Oder wüscht es sich in den Arm genommen zu werden? Ist das Kind wütend, müde, überfordert, hungrig oder braucht es Zuwendung? Wie kann ich diese Wünsche und Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen?

4. Wie reagiere ich auf das Verhalten des Kindes?

Wirke ich ruhig und wertschätzend oder werde ich laut und ungeduldig? Welche Wirkung könnte meine Reaktion auf das Kind haben?

5. Wie fühle ich mich nach der Situation?

Habe ich das Gefühl, angemessen reagiert zu haben, oder ärgere ich mich über mich selbst? Was hätte ich anders machen können?

6. Welche biografischen Bezüge erkenne ich?

Gibt es in meinem Leben konkrete Erlebnisse und Erfahrungen, die meine Wahrnehmung und mein professionelles Handeln beeinflussen? Wie kann ich diese erkennen und aufarbeiten?

Ein Perspektivwechsel hilft

Stellen Sie sich vor, das Verhalten des Kindes wäre nicht gegen Sie gerichtet, sondern ein Ausdruck seiner momentanen Lebensrealität. Diese Haltung ermöglicht es Ihnen, empathisch und gelassen zu reagieren. Ein Kind, das sich auf den Boden wirft, schreit und dabei an seine und unsere Grenzen stößt, will nicht provozieren, sondern zeigen, dass es Unterstützung, Verständnis oder Sicherheit braucht.

Pädagogische Haltung: Stark durch Reflexion

Eine reflektierte Haltung ermöglicht es dir, das Verhalten des Kindes besser zu verstehen und konstruktiv darauf zu reagieren. Diese Haltung wirkt nicht nur deeskalierend, sondern fördert auch eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen mit Verständnis und Geduld begegnen, gerade in herausfordernden Momenten.

Um den Kindern ein zugewandtes und versehendes Gegenüber zu sein, ist es wichtig, sich als Fachkraft selbst Zeit für diese Reflexion zu nehmen. Besprich schwierige Situationen im Team, nimm eine Supervision in Anspruch oder führe ein Reflexionstagebuch. So kannst du deine pädagogische Arbeit kontinuierlich weiterentwickeln und Kinder liebevoll und professionell begleiten.

Denn am Ende gilt: Kinder provozieren nicht – sie zeigen uns, was sie brauchen. Unsere zentrale Aufgabe als Fachkraft ist es, die Botschaft zu entschlüsseln und das Kind bestmöglich in seiner Entwicklung zu begleiten.

Deine Anja

Zur Vertiefung:

Cantzler, A. (2023): Schätze finden statt Fehler suchen, Herder.

Cantzler, A. (2021): Jetzt grinst der mich auch noch frech an

Quellen:

Bercht, A. (2023): Wann ist das Gehirn erwachsen? Aus Spektrum.de https://www.spektrum.de/frage/wann-ist-das-gehirn-erwachsen/2201094 (letzter Zugriff: 10.01.2025)

(Traumapädagogische) Interaktionsanalyse: Lösungsfokussierte Reflexion für herausfordernde Situationen

In der pädagogischen Arbeit begegnen Fachkräfte häufig Kindern, die durch ihr Verhalten an die Grenzen des Erwachsenen stoßen. Dabei kann es immer wieder zu intensiven Momenten kommen, in denen das Verhalten des Kindes nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die Fachkraft emotional belastend und schwer zu handhaben ist. Genau hier setzt die Interaktionsanalyse an – ein reflektiver Ansatz, der nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern auch das eigene Handeln der Fachkraft in den Fokus nimmt.

Die Bedeutung des eigenen Verhaltens

Eine zentrale Überzeugung dieser Interaktionsanalyse lautet: „Wenn ich möchte, dass das Kind sein Verhalten ändert, muss ich zuerst prüfen, ob ich mein Verhalten gegenüber dem Kind verändern sollte.“ Diese Herangehensweise zielt darauf ab, das Verhalten der Fachkraft als Teil der Dynamik zu verstehen. Denn das Verhalten des Kindes und das der Fachkraft stehen in einer ständigen Wechselwirkung.

Kinder, die herausforderndes Verhalten zeigen, reagieren oft besonders empfindsam auf bestimmte Verhaltensweisen von Erwachsenen. Dies bedeutet, dass jede Reaktion der Fachkraft in diesen Situationen eine direkte oder indirekte Gegenreaktion beim Kind auslösen kann. Wenn also ein Kind durch sein Verhalten immer wieder an die Belastungsgrenze der Fachkraft stößt, ist es hilfreich, nicht nur das Verhalten des Kindes zu analysieren, sondern auch das eigene Handeln.

Schrittweise Reflexion

Die (traumapädagogische) Interaktionsanalyse (n. Schmid) so wie ich Sie in meiner traumapädagogischen Weiterbildung kennenlernen durfte, beginnt in der Regel mit der detaillierten Beschreibung einer konkreten Situation: Wo hat sich die Situation abgespielt? Was hat das Kind gemacht? Wie hat die Fachkraft reagiert? Welche Gefühle wurden ausgelöst? Dabei wird nacheinander das Verhalten aus beiden Perspektiven betrachtet – der des Kindes und der der Fachkraft.

Hierbei stellt sich die Frage: Was trage ich als Fachkraft dazu bei, dass das Kind auf eine bestimmte Weise reagiert? Indem man diesen Blickwinkel einnimmt, wird die Fachkraft nicht nur zu einer:m passiven Beobachter:in, sondern auch zu einem aktiven Teil der Situation. Diese Perspektive schafft Raum für Veränderungen im eigenen Verhalten, die wiederum die Dynamik zwischen Fachkraft und Kind positiv beeinflussen können.

Lösungsfokussierte Herangehensweise

Nach der Analyse der Situation geht es um Lösungen – bedürfnissorientiert und konstruktiv. Der Fokus liegt darauf, alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch die der Fachkraft berücksichtigen. Besonders bei Kindern, die durch sie belastende Erlebnisse geprägt sind, ist es entscheidend, dass ihre emotionalen und beziehungsorientierten Bedürfnisse im Zentrum stehen.

Fragen, die in dieser Phase der Reflexion helfen können, sind zum Beispiel:

Was ist der „gute Grund“ für das Verhalten des Kindes?
Häufig verbirgt sich hinter dem herausfordernden Verhalten eines Kindes ein emotionales Bedürfnis, das in der Vergangenheit vielleicht nicht ausreichend erfüllt wurde. Hier geht es darum, dieses Bedürfnis zu erkennen und ihm auf alternative Weise gerecht zu werden.

Wie kann ich als Fachkraft meine Reaktionen so anpassen, dass das Kind neue Handlungsoptionen erlernt?
Anstatt impulsiv oder automatisch auf das Verhalten des Kindes zu reagieren, lohnt es sich, innezuhalten und zu überlegen, welche Handlung dem Kind helfen könnte, sich sicherer und verstanden zu fühlen.

Wie kann das Bindungs- und Beziehungsbedürfnis des Kindes in der Situation erfüllt werden?
In der pädagogischen Arbeit spielt die Beziehungsebene eine zentrale Rolle. Kinder benötigen Sicherheit und Stabilität in der passenden Balance zu Autonomie und Mitbestimmung. Eine Fachkraft, die diese Bedürfnisse erkennt und entsprechend handelt, kann präventiv dazu beitragen, Eskalationen zu vermeiden.

Die Fachkraft im Fokus

Neben der Analyse des kindlichen Verhaltens darf jedoch der Blick auf das eigene Befinden der Fachkraft nicht zu kurz kommen. Die Zusammenarbeit mit Kinderen, deren Verhalten herausfordernd ist, ist oft für Fachkraft emotional herausfordernd. Fachkräfte sind nicht nur professionelle Begleiter, sondern auch Menschen mit eigenen emotionalen Reaktionen, Bedürfnissen und Grenzen. Daher ist es wichtig, im Rahmen der Reflexion auch sich selbst zu fragen:

  • Welche Gefühle wurden in mir ausgelöst?
  • Wie kann ich besser mit diesen Emotionen umgehen, um auch in der nächsten Situation gelassen und professionell zu handeln?
  • Welche Unterstützung benötige ich, um mich gestärkt zu fühlen?

Diese Selbstreflexion trägt maßgeblich dazu bei, dass Fachkräfte langfristig handlungsfähig bleiben und den Kindern die notwendige Stabilität bieten können.

Fazit: Veränderung beginnt bei uns

Die Interaktionsanalyse ist für mich zu einer wertvollen Methode in meinen Seminaren geworden, um herausfordernde Situationen nicht nur besser zu verstehen, sondern auch lösungsorientiert darauf zu reagieren. Dabei geht es vor allem darum, als Fachkraft den eigenen Anteil an der Dynamik zu erkennen und Handlungsalternativen zu entwickeln, die sowohl dem Kind als auch einem selbst helfen.

Indem wir unser eigenes Verhalten reflektieren und gezielt anpassen, schaffen wir die Grundlage für positive Verhaltensänderungen beim Kind. So können wir dazu beitragen, dass belastende Situationen nicht zu Eskalationen führen, sondern zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und einer stabileren Beziehungsebene.

Veränderung beginnt bei uns – und genau das ist der zentrale Schlüssel für eine Beziehungs- und verstehensorientierte Pädagogik.

Mehr dazu findet ihr auch in meinen Buch: Schätze finden statt Fehler suchen, das 2023 im Herder Verlag erschienen ist.

Tragen als Brücke zwischen Familie und Kita

Die Zeit des Ankommens ist sowohl für die neuen Kinder und ihre Familien als auch für die anderen Kinder der Gruppe eine intensive Zeit voller Veränderungen und Emotionen. In dieser Zeit wird die Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem neuen Kind und den neuen Beziehungspersonen, gelegt. Ein zentraler Aspekt, der während dieser Phase oft unterschätzt wird, ist die Co-Regulation – und hier spielt das Tragen eine durchaus entscheidende Rolle.

Was ist Co-Regulation?

Co-Regulation beschreibt den Prozess, bei dem eine andere Person einem Kind hilft, seine Emotionen und sein Verhalten zu regulieren. Für kleine Kinder, die ihre Emotionen noch nicht selbstständig steuern können, ist diese Unterstützung durch eine vertraute Person essenziell. Durch physische Nähe und emotionalen Beistand kann ein Kind lernen, seine Gefühle zu ordnen und auf stressige Situationen angemessen zu reagieren.

Die Rolle des Tragens in der Co-Regulation

Das Tragen, sei es in einem Tragetuch oder einer Tragehilfe, bietet eine einzigartige Möglichkeit zur Co-Regulation. Das Tragen ermöglicht dem Kind:

  1. Sicherheit und Geborgenheit: Es vermittelt dem Kind ein starkes Gefühl von Sicherheit. In einer ungewohnten Umgebung oder in stressigen Situationen bietet der Körperkontakt ein Gefühl von Geborgenheit, was dabei hilft, Ängste und Unsicherheiten zu lindern.
  2. Stärkung der Bindung: Das Tragen fördert die Bindung zwischen Kind und Fachkraft. Diese Bindung ist gerade in der Eingewöhnungsphase entscheidend, da sie dem Kind das Vertrauen gibt, sich auf die neuen Erfahrungen einzulassen.
  3. Regulation von Stress: Körperliche Nähe durch Tragen kann den Stresslevel eines Kindes signifikant senken. Der gleichmäßige Herzschlag der Bezugsperson und die Körperwärme tragen dazu bei, dass das Kind sich entspannen und beruhigen kann.
  4. Förderung des Vertrauens: Indem das Kind durch das Tragen unmittelbar auf seine Bedürfnisse hin beruhigt und getröstet wird, entwickelt es Vertrauen in die Fachkraft. Es lernt, dass diese zuverlässig auf seine Signale reagiert, was es ihm erleichtert, sich den anderen Kindern zu nähern und in der neuen Umgebung anzukommen.

Tragen während der Eingewöhnung

In der Eingewöhnungsphase kann das Tragen eine Brücke zwischen der bekannten und der neuen Welt des Kindes schlagen. Besonders in den ersten Tagen kann das Tragen dabei helfen, dem Kind den Übergang zu erleichtern. Die körperliche Nähe zur Bindungsperson gibt dem Kind die Möglichkeit, sich aus einer sicheren Position heraus an die neue Umgebung zu gewöhnen. Vom Arm der Bindungsperson kann es alles beobachten und deutlich signalisieren, wann es diesen sicheren Hafen verlassen möchte, um die Welt selbständig zu erkunden.

Bei dem morgentlichen Wechsel von der Familie in die Kindergruppe geschieht dies nicht selten vom Arm der Bindungsperson rüber zum Arm der Fachkraft. So bildet das Getragen Sein hier eine Brücke, um sanft ankommen zu können.

Darüber hinaus kann das Tragen auch den Fachkräften in der Kindertagesstätte oder bei der Tagespflege helfen, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Wenn das Kind von Anfang an Nähe und Körperkontakt als beruhigend erlebt hat, fällt es ihm oftmals leichter, sich auch auf die Nähe einer neuen Beziehungsperson einzulassen.

Ich selbst durfte in meiner Zeit als Fachkraft erfahren, wie wertvoll es war, dass meine Kolleg:innen bereit waren, mit Hilfe von Tragetüchern, die Kinder durch den KitaAlltag zu tragen und zwar immer dann, wenn die Kinder diese Form der Co-Regulation brauchten. Und auch unsere etwas älteren Kinder kamen ab und zu in den Genuß, auf diese Weise Zuspruch und Nähe zu bekommen und immer mit dabei sein zu können. Für meine Kolleg:innen war das vor gut 20 Jahren das Normalste von Welt und den Kindern ging es sehr gut damit. Gleichzeitig konnte ich beobachten, wie selbständig und sicher genau diese Kinder sich entwickelten und die Kita für sich eroberten.

Fazit

Das Tragen ist weit mehr als nur eine praktische Möglichkeit, ein Kind von A nach B zu transportieren. Es ist ein essenzielles Werkzeug der Co-Regulation, das Kindern hilft, emotionale Stabilität und Sicherheit zu finden, insbesondere in Übergangsphasen wie der Eingewöhnung. Eltern und Betreuungspersonen sollten das Tragen bewusst als Mittel nutzen, um die Eingewöhnungszeit so sanft und positiv wie möglich zu gestalten. Denn ein gut reguliertes Kind ist bereit, die Welt zu entdecken und neue Beziehungen zu knüpfen.

Wenn Du neugierig geworden bist. Dann empfehle ich dir in meinen neuen KitaTalk reinzuhören, der am 12.09.2024 auf YouTube, spotify und hier auf meiner Website erscheint: Geborgen&Getragen mit Kira Daldrop – einer Trage- und Familienberaterin.

Bedürfnisorientierte Eingewöhnung ist gelebter Kinderschutz

Warum eine Bedürfnisorientierte Eingewöhnung Unverzichtbar ist: Ein Leitfaden für Fachkräfte in Krippe, Kita und Kindertagespflege

Die Eingewöhnung eines Kindes in die Krippe, Kita oder Kindertagespflege ist ein sensibler und essenzieller Prozess, der die Basis für eine erfolgreiche Betreuung und eine positive Entwicklung des Kindes legt. Eine bedürfnisorientierte Eingewöhnung ist dabei von zentraler Bedeutung und sollte von allen Fachkräften als grundlegender Bestandteil des Kinderschutzes verstanden werden.

Die Bedeutung der Bedürfnisorientierten Eingewöhnung

Eine bedürfnisorientierte Eingewöhnung berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse und das Tempo jedes Kindes. Sie orientiert sich an den emotionalen, sozialen und physischen Bedürfnissen, die in dieser Übergangsphase besonders ausgeprägt sind. Die Basis hierfür bildet eine zugewandte und einfühlsame Begleitung, welche schrittweise und behutsam das Ankommen unterstützt und dem Kind die notwendige Sicherheit gibt, um sich in der neuen Umgebung wohlzufühlen.

Bedürfnisorientierte Eingewöhnung bedeutet, dass Fachkräfte jedes Kind als einzigartig betrachten und die Gestaltung des Übergangs auf seine individuellen Bedürfnisse abstimmen. Diese Herangehensweise fördert eine positive Einstellung des Kindes zur neuen Situation und stärkt sein Vertrauen in die Bezihungsspersonen.

Auswirkungen einer Fehlenden Eingewöhnung

Eine nicht bedürfnisorientierte oder gar fehlende Eingewöhnung kann schwerwiegende Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes haben:

  1. Kinder, die ohne behutsamen Übergang in eine neue Betreuungssituation kommen, erleben häufig Stress und Angst. Dies kann zu dauerhafter emotionaler Unsicherheit führen, die sich negativ auf ihr Wohlbefinden und ihre Entwicklung auswirkt. Solche Kinder zeigen oft erhöhtes Trennungsangstverhalten und Schwierigkeiten, sich auf die neue Umgebung einzulassen.
  2. Ohne eine sanfte Eingewöhnung fällt es vielen Kindern schwer, stabile Beziehungen zu den Betreuungspersonen aufzubauen. Ein sicheres Verbundensein ist jedoch entscheidend für das Vertrauen und die soziale Entwicklung des Kindes. Kinder benötigen verlässliche Beziehungspersonen, um ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu entwickeln.
  3. Stress und Unsicherheit können sich in herausforderndem Verhalten äußern, wie z. B. Rückzug, Aggressivität oder verstärktes Klammern an die Bindungspersonen. Diese Verhaltensweisen können den Alltag in der Betreuungseinrichtung zusätzlich belasten und die Integration des Kindes erschweren.
  4. Chronischer Stress kann das Immunsystem schwächen und das Kind anfälliger für Krankheiten machen. Auch Schlafprobleme und Essstörungen können die Folge sein. Kinder, die sich nicht wohlfühlen, haben häufig auch Schwierigkeiten, sich auf Aktivitäten und Lernprozesse einzulassen, was ihre kognitive und motorische Entwicklung beeinträchtigen kann.

Bedürfnisorientierte Eingewöhnung als Kern des Kinderschutzes

Der gelebte Kinderschutz beginnt bereits mit der Eingewöhnung. Eine bedürfnisorientierte Eingewöhnung stellt sicher, dass das Kind in einer neuen Umgebung sicher und geborgen ankommen kann. Dies umfasst mehrere wichtige Elemente:

  1. Wertschätzung und Empathie: Die Fachkräfte nehmen die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes ernst und reagieren sensibel darauf. Sie bieten Trost und Unterstützung, wenn das Kind sie braucht. Diese empathische Haltung schafft Vertrauen und Sicherheit, die für die emotionale Stabilität des Kindes essenziell sind.
  2. Zeit und Geduld: Jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Die Eingewöhnung sollte flexibel gestaltet sein, um dem Kind die Zeit zu geben, die es braucht, um sich sicher zu fühlen. Ein starres Eingewöhnungsschema kann das Kind überfordern und zusätzlichen Stress verursachen. Flexibilität und Geduld seitens der Fachkräfte sind daher unerlässlich.
  3. Partizipation der Eltern: Eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern ist entscheidend. Sie kennen ihr Kind am besten und können wertvolle Hinweise geben. Gleichzeitig vermittelt die Anwesenheit der Eltern dem Kind Sicherheit. Durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern wird die Eingewöhnung erleichtert und die Grundlage für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit gelegt.
  4. Rituale und Struktur: Vertraute Rituale und eine haltgebende Struktur geben dem Kind Orientierung und Sicherheit in der neuen Umgebung. Rituale helfen dem Kind, den Tagesablauf vorherzusehen und sich darauf einzustellen, was ihm ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit gibt.
  5. Kontinuierliche Beobachtung und Reflexion: Die Eingewöhnungsphase sollte durch ständige Beobachtung und Reflexion begleitet werden, um auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes flexibel reagieren zu können. Fachkräfte sollten regelmäßig den Übergangsprozess evaluieren und bei Bedarf Anpassungen vornehmen. Eine enge Dokumentation und der Austausch im Team sowie mit den Eltern sind dabei hilfreich.

Fazit

Eine bedürfnisorientierte Eingewöhnung ist nicht nur eine Frage der pädagogischen Qualität, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil des Kinderschutzes. Sie legt den Grundstein für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Kind und Betreuungsperson und unterstützt die gesunde Entwicklung des Kindes. Fachkräfte in Krippe, Kita und Kindertagespflege tragen eine große Verantwortung, diesen sensiblen Prozess mit Empathie, Geduld und Fachwissen zu gestalten. Nur so können wir sicherstellen, dass jedes Kind die bestmögliche Grundlage für seine weitere Entwicklung erhält.

Indem wir die individuellen Bedürfnisse der Kinder respektieren und auf sie eingehen, schaffen wir eine Umgebung, in der sie sich sicher und geborgen fühlen. Dies ist die Grundlage für ihre emotionale, soziale und kognitive Entwicklung. Bedürfnisorientierte Eingewöhnung ist daher ein wesentlicher Bestandteil des gelebten Kinderschutzes und sollte von allen Fachkräften als solcher verstanden und praktiziert werden.

Deswegen gehört die Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Übergangs von der Familie in die Kita auch grundlegend mit in die Kinderschutzkonzepte und sollten jedes Jahr aufs neue evaluiert werden.

Ankommen in der Kita – wieviele Tränen dürfen sein?

In meiner aktuellen Beratungs- und Weiterbildungspraxis steht das Thema Eingewöhnung wieder einmal an vorderer Stelle.

Verunsicherte Eltern

In meiner Rolle als Elternberaterin wenden sich zunehmend verunsicherte Eltern an mich, die den Übergang ihrer Kinder in die Betreuungseinrichtung so sanft und tränenfrei wie möglich gestalten möchten und dabei nicht selten an eine bestimmte Grenzen stoßen. Sie machen sich Sorgen, ob es es richtig ist, ihr Kind überhaupt in eine Kinderbetreuung zu geben und was die Tränen ihrer Kinder wirklich zu bedeuten haben.
Nicht selten kommt dann auch die Frage auf, ob es nicht per se besser wäre, ihr Kind wieder aus der Kita heraus zu nehmen.
Das ist nicht pauschal zu beantworten und auch sehr abhängig von der Qualität der jeweiligen Kinderbetreuung, den individuellen Lebenssituationen und den alternativen Optionen, die einer Familie überhaupt zur Verfügung stehen. In jedem Fall lohnt es sich, als Eltern genau hinzuschauen, in sich hinein zu horchen und den Dialog mit den jeweiligen Fachkräften zu suchen.

Eine bedürfnisorientiert ausgerichtete Kinderbetreuung weiß darum, dass es in dieser entscheidenden Phase des Ankommens in der neuen Umgebung nicht nur um die emotionale Anpassung der Kinder geht, sondern auch um die Schaffung einer vertrauensvollen und unterstützenden Umgebung, die sowohl den Bedürfnissen der Kinder als auch den Ängsten der Eltern gerecht wird.

Darf das Kind weinen?

Die Fragen, ob Tränen überhaupt vermeidbar und wie viel Tränen während der Eingewöhnungsphase akzeptabel sind, bergen ein zentrale Aspekte bei der Gestaltung eines erfolgreichen Übergangs für Kinder in Kripp, Kita und Kindertagespflege.
Zunächst einmal sind Tränen mehr als menschlich und ein natürlicher Ausdruck von Emotionen, Trennungsschmerz und Anpassungsschwierigkeiten, insbesondere dann wenn Kinder sich von ihren primären Bindungspersonen trennen.

Das bedeutet, dass Tränen durchaus zu einem Ankommen in der Kindertagesbetreuung dazu gehören können. Die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, wann die Tränen Ausdruck eines für das einzelne Kind gesundes Anpassungsverhalten darstellen und wann sie in der Situation Trennungs- und Verlustängste zum Ausdruck bringen.

Da muss das Kind durch

Für nicht wenige Fachkräfte besteht immer noch die Grundhaltung, dass Weinen einfach dazu gehört und Kindern wie Eltern früher oder später dadurch müssen.
Eltern werden dann oftmals viel zu früh zu ersten Trennungen genötigt, mit dem Hinweis, dass das normal ist und das Kind sich früher oder später schon beruhigen werde. Viele Eltern gehen dann mit einem schlechten Gefühl und je nach Persönlichkeit des Kindes, zieht dieses sich in sich selbst zurück und passt sich an, was dann als Beweis gewertet wird, dass es der richtige Weg ist oder aber es kommt zu anhaltenden Protest, der bedauerlicherweise nicht immer feinfühlig begleitet wird. Das Kind bleibt sich in beiden Fällen emotional selbst überlassen.
Ich möchte an dieser Stelle in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass hier emotional gewaltvoll gehandelt wird und völlig indiskutabel ist.

Es geht auch anders

Es braucht feinfühlige Fachkräfte, die den Unterschied erspüren, wann das Kind Trennungsangst hat oder einfach sein Traurigsein über den Abschied von den Eltern verspürt.
Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster beschreibt in letzterem Fall, die im Kind daraus vorhandene Ambivalenz, einerseits ungerne die Bindungspersonen gehen zu lassen und andererseits neugierig auf die anderen Kinder und die KitaWelt zu sein. In diesem Spannungsverhältnis kann es durchaus zu Tränen kommen. Hier helfen dann Trost und Zuwendung durch die Fachkraft. Das Kind braucht die Bestätigung: „Ich verstehe dein Traurigsein darüber, dass deine Bindungsperson geht. Du darfst traurig sein. Ich bin bei dir und gebe dir Halt.“ Sobald die Tränen getrocknet sind, kann sich das Kind in der Regel entspannt dem Spiel mit den anderen Kindern zuwenden.

Traurigsein auszuhalten ist gar nicht so leicht

Wenn Kinder in der Eingewöhnung im Spiel vertieft sind, kommen manche Bindungspersonen auf die Idee, sich ohne Verabschiedung zurückzuziehen. Sie erhoffen sich, so dem Kind und sich selbst das Trennungsleid und die Tränen zu ersparen.
Dies gilt es tunlichst zu vermeiden, da es einem Vertrauensbruch gleich kommt, wenn dem Kind dann die Abwesenheit auffällt. Die Gefahr, dass daraus tiefsitzende Ängste entstehen, ist zu groß. Wichtig ist hier, dass die Fachkraft bereit ist, diesen Abschied zu begleiten.
Bindungspersonen scheuen sich oftmals vor den Tränen ihrer Kinder, weil sie dadurch auch mit eigenen meist unbearbeiteten Kindheitserlebnissen in Kontakt kommen. Dies passiert unbewusst und unreflektiert.

Von Gefühlen ablenken als Schutzstrategie

Ähnlich ergeht es Fachktäften, die das Weinen eines Kindes kaum ertragen können und deswegen ein Kind versuchen schnell abzulenken.
Das gelingt zunächst auch ganz gut, das Kind beruhigt sich für einen Moment. Daraus entsteht nicht selten die Fehlannahme, das Kind würde sich beruhigen, weil es sich getröstet fühlt, das Gefühl verstehen und sich gut regulieren können. Vielmehf erhält es indirekt die Botschaft: „Das, was du fühlst, ist falsch!“, „Du bist nicht richtig!“ Das Kind schluckt dann das Gefühl herunter, verdrängt und schiebt es auf.
Die Fachkraft greift zu dieser Strategie aus Eigenschutz, weil es für sie kaum auszuhalten ist, das Kind so traurig ist.

Biografische Selbstreflexion als Schlüssel

In solchen emotionsreichen Situationen wird die Fachkraft immer auch mit ihren eigenen Gefühlen konfrontiert. Die eigenen Kindheitserfahrungen, eigene Bedürfnisse und verdrängte Traumata wollen gesehen und verarbeitet werden.

Deswegen gilt es als Fachkraft die aufkommenden Gefühle wahrzunehmen und mit der biografischen Brille zu reflektieren:

  • In welchen Situationen ertappst du dich dabei, die Gefühle der Kinder oder auch der Eltern herunterspielen und wegmachen zu wollen?
  • In welchen Momenten möchtest du das Kind von seinen Gefühle ablenken?
  • Was fühlst du in diesem Moment?
  • Was hat das eventuell mit dir selbst zu tun?
  • Was hat das mit deiner eigenen Kindheit und den damit verknüpften Erfahrungen zu tun?
  • Durftest du diese Gefühle als Kind zeigen und ausleben?

Jede Fachkraft ist verpflichtet, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, um dem Kind möglichst befürfnisorientiert begegnen zu können.

Kurze Zusammenfassung zum Schluss

Tränen dürfen in der Trennungssituation durchaus sein und sind nicht immer ganz vermeidbar. Sie können Ausdruck der im Kind vorhandenen Ambivalenz sein, die es im Übergang feinfühlig zu begleiten gilt. Um diese Feinfühligkeit zu gewährleisten, müssen Kind und Fachkraft bereits eine Beziehung zueinander aufgebaut haben. Dies ist auf keinen Fall bereits in den allerersten Tagen möglich.
Angst und Panik sind tunlichst zu vermeiden, in diesem Fall kann nur die weitere Anwesenheit der Bindungsperson zur Entspannung und zum Ankommen des Kindes beitragen. Ein Kind in seiner Not, sich selbst zu überlassen ist fahrlässig und gewaltvoll.
Als Fachkraft hast du die Verpflichtung, dich mit deiner eigenen Gefühlswelt ehrlich auseinander zu setzen, um Kinder und ihre Familien im Übergang zu Krippe, Kita und Kindertagespglege feinfühlig begleiten zu können.

Für weitere Fragen stehe ich auch gerne in meinen Beratungen für Fachkräfte und Eltern zur Verfügung.

Herzlichst
Anja