Worte und Wege finden in Krisen und Katastrophen

Zur Zeit sind wir gebeutelt von Krisen und Katastrophen. Die Pandemie rückt gerade ein wenig in den Hintergrund, obwohl es schon wieder erste warnende Stimmen vor einer weiteren Welle gibt. Trotzdem kommt es zu keiner echten Entspannung, da durch die Überschwemmungen in mehreren Regionen Deutschlands viele Familien ihre Lebensgrundlage von einem Augenblick auf den nächsten zerstört wurde.

Das transgenerationale Erbe

Wir haben schreckliche Bilder gesehen, die wir sonst nur mit Katastrophen in anderen Ländern verbinden. Unsere Kanzlerin sprach von einem Ausmaß, für das uns in der deutschen Sprache die Worte fehlen.
Und da ist es wieder: unser transgenerationales Erbe. Damit ist gemeint, dass wir als Kriegsenkel gelernt haben, über solch schlimme Ereignisse, nicht zu sprechen, sondern lieber zu schweigen. Sogar einer so klugen, gebildeten Frau wie Angela Merkel fehlen die Worte.
Um so wichtiger ist es, dass wir gerade jetzt das Schweigen brechen und beginnen über unser Erleben zu sprechen und unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Die Kinder brauchen jetzt erwachsene Vorbilder, die ihnen Halt und Worte geben.

Psychosoziale Notfallversorgung

Ich denke zum einen an die Kinder, die die Hochwasserkatastrophe und ihre Auswirkungen hautnah erleben. Zum anderen gibt es viele Kinder, die die Bilder im Fernsehen und in der Zeitung gesehen haben und die Gespräche der Erwachsenen mitbekommen.

Für die Kinder, die die Katastrophe miterleben, bedarf es einer psychosozialen Notfallversorgung durch zugewandte Erwachsene.
Dazu gehört:

  • ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln: die Kinder brauchen zumindest in Teilen die Wiederherstellung des ihnen vertrauten Tagesablaufs. Wenn dies nicht möglich ist, sollten sie viel Nähe durch die Eltern und durch andere wichtige Bezugspersonen wie z.B. Tagespflegepersonen, Päd.Fachkräfte und Lehrer*in en erfahren.
  • Kinder mit einzubeziehen: Kinder möchten dabei sein und nicht ausgeschlossen werden. Sie möchten sich an den Aufräumarbeiten beteiligen. Sollte es vorüber nötig werden, die Kinder bei näherstehenden Verwandten oder Freunden unterzubringen, sollte dies nachvollziehbar mit den Kindern kommuniziert werden.
  • Einblick in die Gedanken und Gefühle der Erwachsenen: Die Kinder spüren sehr deutlich die Sorgen und Ängste der Erwachsenen. Wenn wir als Erwachsene einen offenen Umgang damit pflegen, kommen wir aus dem erlernten Schweigen heraus. Die Kinder dürfen die Erfahrung machen, das es gut tut, über das Erleben zu reden und leidvolle Erfahrungen teilen zu dürfen. Das trägt zur psychischen Entlastung bei.
  • das Geschene nicht zu bagatellisieren: Oftmals geschieht dies aus dem Bedürfnis heraus, Kinder schützen zu wollen. Viele Erwachsene meinen, das Kinder noch zu klein sind, das zu verstehen oder zu verkraften. Mit starken und ehrlichen Erwachsenen an der Seite, wachsen Kinder in diesen Situationen und gewinnen eine Menge Widerstandskraft (Resilienz) für ihr weiteres Leben hinzu.
  • das Geschehene nicht zu überdramatisiert: Trotzdem sollte nichts geäußert werden, dass das Kind über Gebühr ängstigt.
  • Kinder aktiv beteiigen, wenn sie das wollen: Einige Kinder wollen sich aktiv an den Aufräumarbeiten beteiligen und sich nützlich machen. Auch hier gilt es eine gute Balance zu wahren: die Kinder einzubeziehen ohne sie körperlich oder psychisch zu überfordern.
  • Kinder Kindsein zu ermöglichen: Mit Freunden treffen, spielen und das tun, was gut tut. Es gibt gerade einzelne Angebote für Kinder in den Krisengebieten, wie z.B. ein Zirkus, der betroffene Kinder kostenlos in sein Ferienangebot aufnimmt. Hier dürfen die Kinder für ein paar Stunden Kind sein und ein bisschen Abwechslung genießen. Auch das ist als Ausgleich sehr wichtig.
  • das Erlebte thematisieren: Ganz zentral ist das schließlich die Möglichkeit über das Gesehene und Erlebte sprechen zu können und jemanden zu haben, der interessiert und zugewandt zuhört.

 

Die von mir dargestellten Punkte habe ich in Anlehnung an die Psychosoziale Notfallversorgung von Harald Karutz formuliert. Vieles hiervon lässt sich auch gut auf andere Krisen und Katastrophen übertragen.

Wieder einmal kommt mir der Grundsatz von Janusz Korczak in den Kopf: „Jedes Kind hat das Recht auf den heutigen Tag.
Die Betroffenen Kinder haben demzufolge ein Recht darauf, an diesem Hier und Jetzt der Katastrophe einbezogen und beteiligt zu werden, damit sie eine Chance haben das Ganze zu verstehen. Soweit ersteinmal zu den Kindern, die unmittelbar betroffen sind.

Auch Zusehen aus der Ferne braucht Begleitung

Auf der anderen Seite gibt es viele Kinder, die diese Katastrophe im Fernsehen gesehen und Erwachsene darüber reden gehört haben.
Auch diese Kinder brauchen den Raum und zugewandte Erwachsene, um für ihre Gefühle und Eindrücke Worte zu finden.
Und wir müssen nicht immer erst warten, bis ein Kind von sich aus beginnt, darüber zu reden oder dem Ganzen in seinem Spiel Ausdruck zu verleihen.

Es besteht genauso die Möglichkeit, gemeinsam in einer Gesprächsrunde einmal nachzufragen, was die Kinder von den Überschwemmungen mitbekommen haben. Frag sie nach ihren Gedanken und Gefühlen dazu. Sprich über das vermeintlich Unaussprechliche ohne zu dramatisieren.
Wichtig ist hierbei, den Grundsatz der Freiwilligkeit zu beachten. Das bedeutet, dass jedes Kind über seine Gefühle sprechen kann aber nicht muss.
Solltest Du feststellen, dass die Sorgen und Ängste tiefer sitzen, möchte ich Dich an Mareike Paics Gastbeitrag über „Phil, den Sorgenschmelzer und seine Kummerkumpel“ erinnern. Ergänzend zum Thema Gefühle hat Mareike einen weiteren wertvollen Beitrag über den Einsatz der „Gefühlsuhr“ geschrieben.

Wichtig ist auf jeden Fall ressourcen- und lösungsfokussiert auf das Geschehen zu schauen. Es ist wirklich sehr bemerkenswert, wieviele freiwillige Helfer sich bereits gefunden haben und vor Ort tatkräftig mit anpacken. Diese kleinen und großen Heldengeschichten wie Corinna Scherwath (Autotrin des Buches: Liebe lässt Gehirne wachsen) sie nennt, stärken den lösungsfokussierten Blick. Vielleicht möchten ein paar Kinder auch etwas Gutes tun und es entsteht eine kleine Spendenaktion. Ganz aktuell gibt es bedauerlicherweise auch Kindertagespflegestellen und Kindergärten, die ganz von vorne anfangen müssen. Vielleicht können hier Kontakte hergestellt und irgendetwas zum Wiederaufbau beigesteuert werden.

Eine Zukunft ohne Schweigen

Ich hoffe, dass wir es irgendwann schaffen, unser Erbe des transgenerational bedingten Schweigens hinter uns zu lassen. Ich möchte dazu beitragen, dass die nachfolgenden Generationen Worte finden, um ihre Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken zu können. Und das ohne sich dafür rechtfertigen oder entschuldigen zu müssen.

Es werden noch viele Krisen und Katastrophen folgen, die heranwachsenden Kinder brauchen andere Kompetenzen, um damit umzugehen und die Erlebnisse zu verarbeiten. Dafür braucht es jetzt Erwachsene, die Kindern in Gleichwürdigkeit begegnen und die die in all ihren Facetten und Gefühlsebenen ernst nehmen.

Soweit meine Gedanken und Anregungen zum aktuellen Geschehen. Ich wünsche Dir viel Kraft und Energie, falls Du dies als Betroffene*r lesen solltest. Auf jeden Fall wünsche ich Dir als Betroffene*r oder Begleitende*r den Mut, das Schweigen zu brechen und mit den Kindern in einen offenen, klärenden und bestärkenden Dialog zu kommen.

Deine Anja

P.S.
Eine weitere wertvolle Handreichung zur Unterstützung von Kindern in Krisen hat Gundula Göbel zusammengestellt. Hier kommst Du direkt zum kostenlosen Download.

Ein interessantes Online-Seminar zum Thema „Alles wieder gut?!- Pädagogik in (post-)pandemischer Zeit“ bietet aktuell Corinna Scherwath an.