„Deutschland verspielt die Zukunft seiner Kinder…“- dieses Zitat stammt von dem Buchrückentext, der auf Ilse Wehrmanns neustem Buch „Der Kita-Kollaps“ zu finden ist.
Ilse Wehrmann beschreibt in diesem Buch die aktuelle Lage der Kindertageseinrichtungen – ungeschönt und bitter. Gut recherchiert, analysiert sie die aktuelle Misere, deckt die politischen Versäumnisse der letzten 20 Jahre auf und versucht Lösungswege aufzuzeigen.
Ein Rückblick
Ich bin nun seit 30 Jahren im Beruf und mir geht es ähnlich wie Ilse Wehmann. Ich verstehe nicht warum wir sehenden Auges in diese heutige Situation gerannt sind. Oft werden die katastrophalen Umstände mit der Pandemie begründet. Aber das ist nur ein ganz kleiner Teil der Wahrheit. Denn bereits vor 20 Jahren machte Professor Wassilios Fthenakis mit anderen Expert*innen darauf aufmerksam, dass dringend gehandelt werden müsse. Was dort geraten wurde, liest sich heute wie eine Blaupause. (Wehrmann, 2023, S.172-173)
Und trotz andauernder warnender Stimmen wurde nicht gehandelt, zumindest nicht mit Blick für eine langfristige und tragfähige Bildungspolitik. Eine Bildungspolitik, die allen Kindern und Familien zugute kommt, die Familien entlastet und unterstützt und die Fachkräften einen vernünftigen Arbeitsrahmen bietet.
Ein Ausblick
Aber solange die Politiker nur auf kurzfristige Erfolge erpicht sind, um möglichst hoch auf der Karriereleiter steigen zu können, wird da nichts draus. Kinder haben in unserer Gesellschaft keine Lobby. Mit dieser Sicht verspielt Deutschland langfristig nicht nur die Zukunft seiner Kinder… langfristig auch die eigene. Deutschland hat keine Rohstoffe, die es exportieren könnte, unser einziges Pfund ist Wissen. Tja, und das geht gerade den Bach runter.
Was wir jetzt brauchen sind beherzte Politiker*innen auf Bundesebene, die bereit sind unabhängig von ihrer eigenen Karriere, sich für die Entwicklung des Bildungssystems und für unsere Kinder stark zu machen. Es geht um die Umorganisation der Zuständigkeiten von Bund, Land und Kommune. Es braucht Bildungsgipfel, bei denen alle Länder, Kitafachkraftverbände, Elternvertretungen, Wohlfahrtsverbände vertreten sind und an langfristigen Lösungen interessiert sind. Das braucht Geld und die Beherztheit manche Prozesse zu verschlanken. Ideen gibt es genug.
Und aktuell?
Natürlich braucht es auch Übergangslösungen für die aktuelle Situation. Denn es macht mir sehr nachdenklich, was mir in den letzten Wochen und Monaten in meiner Coaching und Beratungstätigkeit gehäuft begegnet: Fach- und Leitungskräfte, die sich mit der Arbeit nicht mehr identifizieren können, weil sie kaum Zeit für das einzelne Kind mehr haben und zuviel andere Aufgaben (admistrativ, dokumentarisch, hauswirtschaftlich) noch abdecken sollen, mal ganz unabhängig davon, ob die Kolleg*innen überhaupt da sind oder alle Stellen besetzt sind. Vorbereitungs- und Besprechungszeiten fallen oftmals ganz weg. Fach- und Leitungskräfte sind zunehmend erschöpft und ausgebrannt. Für viele scheint das Ausscheiden aus dem Beruf und die Suche nach anderen Arbeits- und Betätigungsfeldern die einzige Lösung.
Vorsicht vor toxischer Positivität
Anderen wiederum wird vorgegaukelt, sie müssten nur ihr mindset ändern, dann wäre alles halb so schlimm. Frei nach dem Motto: Du musst dir die Welt nur schön denken, dann ist sie auch schön.
Auch ich versuche mit meinen Coachees ersteinmal herauszufinden, was sie an ihrer Tätigkeit schätzen und ob es etwas gibt, aus dem sie Kraft schöpfen können. Selbstfürsorge ist dabei immer wieder ein sehr wichtige Thema.
Ich bin aber keine Freundin davon, die Verantwortung für ihr Wohlbefinden nur den Fachkräften zu zuschieben. Nicht selten haben die Fachkräfte dann das Gefühl, etwas falsch zu machen und nicht richtig zu sein. Sie suchen den Fehler bei sich.
Es braucht Unterstützung von den Verantwortlichen
„Du kannst die anderen nicht ändern, nur dich selbst.“ – „Wenn du die Situation nicht ändern kannst, dann ändere deine Haltung dazu.“ – An diesen Aussagen ist etwas dran. Haltung und Einstellung spielen eine große Rolle, um schwierige Situationen zu meistern. Trotzdem dürfen sie dich nicht dazu verleiten, dass du alles nur hinnimmst, aushälst und ständig gegen Windmühlen arbeitest. Manchmal ist es ´besser zu gehen, wenn es keine weitere Unterstützung von außen gibt.
Daher schätze ich gerade jeden Träger, der versucht hier Abhilfen zu schaffen: z.B. durch Überprüfung ob wirklich jede Dokumentation notwendig ist, wo durch Verwaltungskräfte Entlastung geschaffen werden kann und durch veränderte Betreuungszeiten der Einsatz der vorhandenen Fachkräfte verlässlicher stattfinden kann. Letzteres kann auch Eltern mehr Sicherheit geben. Manchmal ist eine verlässliche 35 Stunden-Betreuung an 4 1/2 Tagen besser, als eine 45 Stunden Betreuung, die jeden Tag auf der Kippe steht.
Ein Hoffnungsschimmer
Zum Glück gibt es Initiativen von Trägern, die ihren Leitungskräften zum Beispiel Verwaltungskräfte zur Seite stellen und Home-Office Zeiten ermöglichen.
Und es gibt Leuchttürme in der Kita-Landschaft. Das sind, die sich trotz aller Schwierigkeiten auf den Weg gemacht haben, um Kindern, Eltern und sich selbst ein gutes Arbeitsumfeld zu schaffen. Nicht selten sind hier die bedürfnisorientierte Pädagogik, Werkstattpädagogik, Reggiopädagogik ud Offene Arbeit die großen Gamechanger. Ein nennenswertes Beispiel bietet hier die Kita Heide-Süd in Halle (Saale). Diese Kita arbeitet bedürfnisorientiert und sie wurden dieses Jahr mit dem Deutschen Kita-Preis ausgezeichnet. Ich hatte das Vergnügen, mit der Leitung und zwei ihrer Mitarbeiterinnen in einem Kita Talk sprechen zu können. Es wäre mein Wunsch, wenn solche Einrichtungen nicht nur Leuchttürme bleiben, sondern unsere zukünftige Kita-Landschaft gestalten.
Hier kommst du zum Kita Talk: Kinder radikal ernst nehmen.
Trotzallem bleibt Nachdenklichkeit
Das Buch von Ilse Wehrmann hat viel in mir aufgewühlt. Ich bin nachdenklich, verärgert, frustriert und gleichzeitig motiviert weiter zu machen. Ich werde weiter am Ball bleiben, den Finger weiter mit in die Wunde legen, Fachkräfte begleiten und unterstützen, Familien beraten und für die Rechte der Kinder mich weiterhin einsetzen.
Deine Anja
Ich kann nur sagen : Vielen Dank liebe Anja! Es tut sehr gut deine Worte zu lesen und zu wissen dass man nicht ganz alleine steht. Nur wenn wir als Fachkräfte zusammenhalten und alles tun um uns und die Kinder zu retten kann es funktionieren.
In meinem Kolleginnenumfeld höre ich leider viel zu oft diese Sätze die du beschreibst, Resignation , Krankheiten und Frust sind Alltag.
Ich selbst würde den Job am liebsten sofort an den Nagel hängen.
Es ist traurig dass es so ist und vor allem dass es niemandem interessiert, was aus den Kindern wird.
Vielen Dank auch für den Hinweis auf das Buch.
Liebe Daniela- ich werde nicht aufgeben und auf jeden Fall am Ball bleiben, um Fachkräfte wie dich zu ermutigen, stärken, begleiten und unterstützen.
Kinder haben keine Lobby und das ist fatal. Die Bedeutung der Kindheit und die Entwicklungsmöglichkeiten werden von zu Vielen noch immer stark unterschätzt. Sie schafft einen Boden fürs Leben : Selbstwertgefühl.
Ich habe in mehr als 40 Jahren Kitaarbeit viele positive Veränderungen erlebt und mitgetragen und frei mich , dass viele Kitas bedürfnisorientiert arbeiten , ein grosser Schritt (endlich). Doch ohne die Bedingungen zu ändern und das versuchen wir seit Jahren öffentlich zu machen, ist das mehr als kräfteraubend. Kraft die für die Kinder und sich selbst wesentlich gesünder eingesetzt und gebraucht wird. Ich habe Respekt für Jede/n die/der da Einsatz zeigt .
Und Anja, ganz klar für deinen Einsatz, du weisst wie bedeutend er ist.
Liebe Ingride
Ich bin dankbar für jeden Tag, den Kinder begleitet hast und dich für Veränderungen mit eingesetzt hast. Wir wären ohne dich und viele andere Fachkräfte heute noch nicht da wo wir im positiven Sinne sind. Leider sind wir trotz aller Bemühungen auch noch nicht da, wo wir gerne wären. Trotzdem gibt es für mich keine andere Option als Weiterzumachen und mich für die Rechte der Kinder einzusetzen.
Liebe Anja, vielen herzlichen Dank für deinen Blog und deinen Einsatz als Stütze für die Fachkräfte an der Basis.
Ich schließe mich den vorangegangenen Kommentaren aus eigenen langjährigen Erfahrungen an und möchte alle Kita-Pädagogen von Herzen ermutigen Mitglied in den Kitafachkräfte-Verbände des entsprechenden Bundeslandes zu werden. Dort gibt es so engagierte Menschen, die sich für die vielfältigen Veränderungen der Rahmenbedingungen in Kita in den Landtagen und bis auf Bundesebene einsetzen. Jede Mitgliedschaft ist eine Stimme und jede Stimme zählt- für unsere Kinder, für die Gesundheit und den Schutz aller Fachkräfte und den Erhalt von Deutschland.
Wir brauchen dringend Handlung und Haltung in der gesamten Kitalandschaft. Die Leuchttürme, die es schon gibt, sollten jedem Kind für sein Wachstum zur Verfügung stehen.