Biografische Selbstreflexion – ein vielseitiges Instrument zur beruflichen Standortbestimmung und persönlichen Weiterentwicklung

Als pädagogische Fachkraft hast du eine wichtige Verantwortung: Du begleitest Kinder in ihrer Entwicklung, bestärkst sie in ihrem Sein und unterstützt sie, sich selbst zu entdecken. Doch wie kannst du dich selbst darauf vorbereiten, diese Aufgabe erfolgreich zu meistern? Eine Möglichkeit dazu bietet die biografische Selbstreflexion, mit der ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige. Diese Auseinandersetzung mit mir selbst, begann aufgrund einer schweren Erkrankung vor über 20 Jahren, die ich in Begleitung einer Therapeutin zu verarbeiten suchte. Schon sehr schnell bemerkte ich, dass diese Form der Bearbeitung meiner biografischen Erlebnisse und Erfahrungen dazu führte, dass ich mich selbst besser verstehen und annehmen lernte. Die anschließenden systemischen Ausbildungen zur Coachin und Supervisorin vertieften dieses Erleben. Hier machte ich die Erfahrung, dass es nicht immer eine Therapie sein muss, um sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen oder um herauszufinden wer ich bin, was ich kann und wohin ich will.

Was genau ist biografische Selbstreflexion?

Unter biografischer Selbstreflexion versteht man die systematische Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Dabei geht es darum, die eigenen Erlebnisse, Gefühle und Einsichten zu reflektieren und sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Die biografische Selbstreflexion kann dabei auf verschiedene Arten stattfinden, zum Beispiel durch das biografische Schreiben oder durch Gespräche mit anderen Menschen.

Warum ist biografische Selbstreflexion für pädagogische Fachkräfte wichtig?

Biografische Selbstreflexion kann für pädagogische Fachkräfte auf viele Arten von Nutzen sein. Zum einen kann sie dazu beitragen, die eigene Identität und die eigenen Werte besser zu verstehen und zu stärken. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn wir uns in schwierigen Situationen befinden oder uns unsicher sind, wie wir am besten handeln sollen.

Zum anderen kann biografische Selbstreflexion dazu beitragen, die eigenen Stärken und Schwächen besser kennenzulernen. Dies ist wiederum von Vorteil, wenn wir uns beruflich neu orientieren oder uns für eine neue Stelle bewerben möchten. Indem wir uns bewusst damit auseinandersetzen, was uns in der Vergangenheit besonders gut gelungen ist und wo wir noch Verbesserungspotential haben, können wir uns gezielt weiterentwickeln und uns auf die Zukunft vorbereiten.

Biografische Selbstreflexion als Werkzeug zur Standortbestimmung

Neben der Klärung der eigenen Werte und Stärken kann biografische Selbstreflexion auch dazuanjacantzler@t-online.de beitragen, uns bei der Standortbestimmung zu unterstützen. Indem wir uns bewusst mit unseren bisherigen beruflichen Erfahrungen und Erlebnissen auseinandersetzen, können wir besser verstehen, welche Art von Arbeit uns wirklich erfüllt und welche nicht. Auf diese Weise können wir uns gezielt auf Stellen bewerben, die zu uns und unseren Werten, Interessen und Vostellungen passen.

Biografische Selbstreflexion als Möglichkeit, die eigene Entwicklung zu unterstützen

Nicht zuletzt kann biografische Selbstreflexion auch dazu beitragen, unsere eigene berufliche Entwicklung zu unterstützen. Indem wir uns bewusst mit unseren bisherigen Erfahrungen und Erlebnissen auseinandersetzen, können wir besser verstehen, welche Art von Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten wir in der Vergangenheit wahrgenommen haben und welche wir in Zukunft noch nutzen möchten. Auf diese Weise können wir unsere Karriere gezielt gestalten und uns auf die Zukunft vorbereiten.

Wie findet das im Einzelnen statt?

Durch die Auseinandersetzung mit deiner eigenen Lebensgeschichte weckst du Erinnerungen und damit verbundene Gefühle – dies kann für dich sowohl zur Aufarbeitung und Versöhnung führen als auch ein wiederentdeckter Quell der persönlichen Freude sein. Du bist das Ergebnis deiner Vergangenheit, unabhängig davon ob sie nun positiv oder negativ war. Wenn du sie annimmst, kannst du fühlen, wer du bist!

Indem du dich mit deinem Leben auseinandersetzt, erkennst du deine eigenen Stärken und Ressourcen und kannst sie in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern, Eltern und Kolleg*innen bewusst und möglichst entwicklungsförderlich einsetzen. Nur, wenn du dich selbst kennst und weißt, was für Ressourcen und Kompetenzen in dir schlummern, kannst du das authentisch und stimmig in deine pädagogische Tätigkeit einbringen.

Manchmal verstehen wir erst durch den Blick in unsere Vergangenheit warum Dinge geschehen. Nicht selten wird dann deutlich, dass auch vermeintlich „schlechte“ Erfahrungen am Ende etwas Positives in deinem Leben bewirkt haben. Ben Fuhrmann hat hierzu das wunderbare Buch: „Es ist nie zu spät eine glückliche Kindheit zu haben“ geschrieben. Sein Fazit besteht darin, dass es nicht wichtig ist, was wir im Einzelnen erlebt haben, sondern unsere Bewertung im Nachhinein ausschlaggebend ist, welche Bedeutung das Erlebte für uns hat. Biografische Selbstreflexion ist ein Weg, der dir hilft, das zu erkennen.

Eine Auseinandersetzung mit deiner eigenen Lebensgeschichte und deinem beruflichen Werdegang führt zur Sinnfindung in deinem Leben. Indem du du vergangene Erfahrungen reflektierst, weißt du viel besser, warum du in bestimmten Situationen auf deine persönliche Art und Weise reagierst. Der „rote Faden“ in deinem Fühlen, Denken und Handeln wird sichtbar und du lernst dich selbst als Person intensiv kennen.

Bist du noch glücklich in deinem Team oder in deinem Beruf?

In letzter Zeit begegne ich zunehmend Leitungs- und Fachkräften, die in einer Sinnkrise stecken. Viele Kolleg*innen sind zwischen 35 und 60 Jahre alt, arbeiten schon viele Jahre mit viel Herz und Engagement in diesem Beruf. Die einen haben schon alles erreicht und sind auf der Suche nach neuen Herausforderungen, andere haben sich so verausgabt und versuchen den drohenden Burnout zu umgehen, wieder andere sind frustriert, weil ihnen Wertschätzung und und Anerkennung fehlt, und dann gibt es die, die ihre beruf lieben, jedoch immerwieder an Grenzen stoßen, weil ihre Vision einer beziehungsstarken, bedürfnisorientierten und gewaltfreien Kindheit bei den Kolleg*innen auf Widerstand stößt.

Findest du dich da gerade wieder? Dann solltest du dich fragen:

  • Wie zufrieden bin ich gerade mit mir und meiner beruflichen Situation?
  • Sehne ich mich nach einer Veränderung?
  • Wie erlebe ich meinen beruflichen Alltag? Sind meine Tätigkeiten für mich noch sinnvoll oder gibt es für mich wichtigere bzw. andere Dinge, zu denen ich aber nicht komme, weil mir die Energie fehlt?
  • Ertappe ich mich öfters bei Gedanken wie z.B. „Ich kann so nicht mehr weitermachen“ oder „wann kommt endlich das nächste Wochenende?“
  • Habe ich im schlimmsten Fall vielleicht schon körperliche oder psychische Beschwerden, weil mir „alles zuviel“ wird?
  • Oder hinterfrage ich ganz einfach „das große Ganze“ und stelle mir öfters mal die Frage nach dem „Sinn“ ?

Schließe nun für einen Moment die Augen, atme tief durch und fühle in dich hinein.

Wie hast du die Fragen im Einzelnen beantwortet und wie geht es dir damit? Fühlt sich das noch stimmig für dich an? Stehst du am Morgen im Normalfall gerne auf und startest gut in den Tag? Oder gibt es etwas, was dich bedrückt und das du vielleicht gerne ändern möchtest? Woher kommt deine aktuelle Unzufriedenheit?

Gehen wir einen Schritt weiter

Lass uns nun einmal ein kleines Experiment machen. Lass vor deinem geistigen Auge eine Sanduhr entstehen, die für dich deine persönlich gefühlte Lebens-Sanduhr darstellt – und damit meine ich nicht deine bereits vorhandenen Lebensjahre. Wie viel von deinem emotionalen Leben hast du nach deinem Empfinden schon gelebt bzw. wie viel Sand ist schon durch die Verengung geronnen? Nimm dir für die Beantwortung dieser Frage Zeit – und spüre in dich hinein.

Wie sieht deine Sanduhr aus? Ist deine Sanduhr im oberen Teil noch ganz voll, weil noch nicht viel Lebenszeit verronnen ist und du noch alle Möglichkeiten hast, dein Leben zu genießen und dich zu verwirklichen? Oder ist bei dir die Hälfte der Zeit schon abgelaufen ist? Oder bestimmt dich das Gefühl haben, dass dir nicht mehr allzu viel Zeit bleibt…

Alleine dich hier einzuordnen gibt dir schon eine gute Auskunft darüber, wo du in gerade stehst. Denke jetzt noch einmal einen Moment darüber nach. Was sagt dir das? Was möchtest du aus deiner verbleibenden Zeit machen? Hast du noch Pläne? Wenn ja, wann willst du damit beginnen, sie zu verwirklichen?

Um dem Ganzen aber noch genauer auf den Grund zu gehen, schau dir bitte nachfolgende Satzanfänge an.

  • Bis jetzt habe ich noch nicht …
  • Irgendwann will ich unbedingt …
  • Mir fehlt derzeit …
  • Ich freue mich gerade über …

Was braucht es, um dahin zu kommen, wo du gerne sein möchtest? Und was kannst du selbst dafür tun?

Nicht immer bedeutet das dann, den Beruf ganz an den Nagel zu hängen. Manchmal reicht der Wechsel in ein neues Team, das von den Werten und der Haltung besser zu einem passt. Manchmal sind es kleinere und größere Stellschrauben, die es zu verhandeln gilt wie z.B. die Einführung eines Nachmittags im Home Office für die Leitungskraft, um ungestörte Zeit für das Qualitätsmanagement zu haben.

Und wenn du merkst, dass du dich gerade im Kreis drehst und selbst keine passenden Wege für dich findest, dann wende dich am besten an eine*n Coach*in deines Vertrauens. Oftmals braucht es einfach den Blick und die Begleitung von außen. Auch ich als erfahrene Coachin suche manchmal professionelle Beratung auf, da Selbstcoaching nicht immer zielführend ist. Oder wie mein Mann sagt: „Das kann ja auch nicht funktionieren, schließlich kann man sich ja auch nicht selbst kitzeln.

Ein paar Worte zum Schluss

Biografische Selbstreflexion kann dir als pädagogische Fachkraft auf viele Arten von Nutzen sein. Sie kann dazu beitragen, deine eigene Identität und die eigenen Werte besser zu verstehen und zu stärken, die eigenen Stärken und Schwächen besser kennenzulernen und dich bei der Standortbestimmung und beruflichen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Wenn wir uns bewusst damit auseinandersetzen, was uns in der Vergangenheit besonders gut gelungen ist und wo wir noch Verbesserungspotential haben, können wir uns gezielt weiterentwickeln und uns auf die Zukunft vorbereiten und ggfs. neue wege finden. Manches Mal bedarf es hierbei der professionellen Begleitung und Unterstützung.

Deine Anja

 

 

Zur Vertiefung:

Bogartikel: Warum glaubst du mir nicht- Umgang mit Mißtrauen und falschen Unterstellungen

Gastbeitrag von Anja Klostermann: Und jedem Abschied folgt ein Neubeginn

Wedewardt, Lea/ Cantzler, Anja (2022): Sich seiner Selbst Bewusst Sein – Biografische Selbstreflexion. Herder Verlag.

Wedewardt, Lea/ Cantzler, Anja (2022): Sich seiner Selbst Bewusst Sein – Biografische Selbstreflexion, Das Workbook. Herder Verlag.

 

Spurensuche – Biografiearbeit in der Kita

Janusz Korcak als Pionier

Bereits Janusz Korczak (Kinderarzt und Pädagoge) legte zu Beginn des 2. Jhd. in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte Wert auf die Biografische Selbstreflektion. So wird berichtet, dass er bereits 1926 in einem Vortrag alle Teilnehmerinnen darum bat, ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Unter Einbeziehung der von den Auszubildenden selbständig reflektierten Erfahrungen wollte er die Basis für eine positiv ausgerichtete Erziehung legen. Im Lag es am Herzen, dass alles auf die Gestaltung einer besseren Kindheit für die den pädagogischen Fachkräften anvertrauten Kinder ausgerichtet wurde. Hier wird deutlich, dass Janusz Korczak bereits wusste, dass alle negativen Kindheitserfahrungen, die nicht reflektiert und aufgearbeitet werden, sich negativ auf das pädagogische Fühlen, Denken und Handeln der Fachkräfte gegenüber den Kindern auswirken kann.

Biografiearbeit als wichtige Basis

Damit Kindern eine unbeschwerte und gewaltfreie Kindheit möglich wird, sind wir daher alle dazu angehalten unsere Biografie entsprechend anzuschauen und aufzuarbeiten.

Um dies zu tun, bietet die Biografiearbeit Dir viele Möglichkeiten und Methoden zur biografischen Selbstreflektion. Diese „biografische Selbstreflexion“ fördert Deine individuelle Identitätsfindung (vgl. Gudjons, 2008, 16ff) und wirkt Haltungsbildend. Durch das Reflektieren und Verstehen Deiner eigenen Lebensgeschichte kannst Du als pädagogische Fachkraft Ressourcen und Kompetenzen entdecken, die ihre Wurzeln in Deinen vorausgegangenen Erfahrungen und Erlebnissen verwurzelt sind. Auf Grundlage dieser Erinnerungsarbeit kannst Du Dein gegenwärtiges Denken und Handeln reflektieren.  Es eröffnen sich Dir auf diese Weise neue Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Die biografische Selbstreflektion ermöglicht Dir eine deutlichere Abgrenzung von den persönlichen Einstellungen und ihren Ursprüngen hin zu professionellen Grundlagen und Notwendigkeiten.

Ein Interview von Maxi John mit Anja Cantzler

Ich beschäftige mich nun schon seit einigen Jahren mit den Möglichkeiten der Biografiearbeit und biografischen Selbstreflektion für die pädagogische Arbeit in der Kindertagesbetreuung. Mittlerweile sind einige Fachartikel und Fachtexte zu diesem Thema entstanden, die in diversen Fachzeitschriften publiziert wurden. Aktuell entsteht ein neuer Beitrag für ein Handbuch für Biografiearbeit, in dem der Elementarbereich erstmalig explizit aufgenommen wird.

Bereits im Mai 2020 habe ich einen Blogeitrag zum Thema „Portfolio als Biografiearbeit“ geschrieben. Hier ging es darum, Dich dafür zu sensibilisieren, dass Du in Deiner täglichen Arbeit mit den Kindern und Eltern biografisch arbeitest und wirksam bist. Parallel zu dem Blogbeitrag entstand ein Interview, dass mit mir als Expertin im Rahmen einer Bachelorarbeit geführt wurde. Dieses Gespräch möchte ich Dir an dieser Stelle zugänglich machen, weil ich der Überzeugung bin, dass es als Pädagogische Fachkraft wichtig ist, sich immer wieder mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Mein besonderer Dank gilt hier Maxi John, die mir das Interview zur Verfügung gestellt hat.

In dem Interview erzähle ich:
  • wie ich überhaupt zur Biografiearbeit gekommen bin
  • für welche Felder der Sozialen Arbeit die Biografiearbeit relevant
  • warum die Biografiearbeit speziell im Elementarbereich oder in der Kita durchgeführt werden sollte
  • in welchem Rahmen Biografiearbeit in der Kita möglich ist
  • welche Methoden sich auch in der Arbeit mit den Kindern anbieten
  • was Portfolio mit Biografiearbeit zu tun hat
  • welche Bedingungen es für eine gelingende Biografiearbeit mit Kindern und im Team braucht
  • welche Voraussetzungen die pädagogischen Fachkräfte mitbringen sollten
  • wann Biografiearbeit an ihre Grenzen stößt
  • abschließend mache ich mir Gedanken dazu, wie sich die Corona-Pandemie auf die Biografie der Kinder auswirken wird und wie Du damit am besten umgehen kannst

Ich lade Dich ein, es Dir gemütlich mit einem Kaffee oder Tee zu machen und Dich von diesem Interviewmitschnitt für Deine eigene biografische Selbstreflektion inspirieren zu lassen.

Das Interview beginnt mit meiner Antwort auf die Frage, wie ich zur Biografiearbeit gekommen bin. Viel Freude beim Zuhören. 

Deine Anja

hier kommst Du zum Interview: Biografiearbeit in der Kita

 

 

Wenn Du jetzt noch mehr über Biografiearbeit erfahren möchtest, dann findest Du hier mehr:

Kita-Fachtexte: Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Biografie

Nifbe: Spurensuche – Wie Biografien unser pädagogischen Handeln beeinflussen

Biografische Selbstreflexion als Basis einer professionellen Haltung in: KiTa aktuell spezial: Haltung und Biografiearbeit in der Kita, Ausgabe 2/2021 (Zur Zeit noch nicht als Einzelheft bestellbar)

Auf diesen Seiten findest Du tolle Vorlagen für Deine Portfolio-Arbeit: Sandra Warsewicz Werkstatt der guten Gedanken