von Anja Cantzler | 22.11.2022 | Gastbeitrag
Quelle: Canva
Bereits 2020 habe ich mich mit Unterstützung Trauerbegleiterin Vanessa Pivit hier auf diesem Blog den Themen Tod und Trauer gewidmet. Diese Beiträge findest du unter: Wie lange dauert traurig sein – Ein Interview über Abschied Tod und Trauer, Teil 1 und Teil 2 und Der Trauerkoffer.
Heute folgt ein weiterer Beitrag, dieses Mal von Anne Seyfert verfasst, die sich im Rahmen ihres Studiums mit dem Thema intensiv auch auf Basis der Biografiearbeit beschäftigt hat. Ich wünsche dir viele interessante Impulse und Anregungen für deine Arbeit mit Kinder, die gerade diese Themen umtreiben und die du gerne darin begleiten möchtest.
Wird Papa nass, wenn es regnet? – Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern
Ein Gastbeitrag von Anne Seyfert
Kann Mia den Regenbogen auch sehen? Schaut Opa mir beim Spielen zu? Hat Mama mich jetzt immer noch lieb? Kann ich Oma das Haus zeigen, was ich heute für sie gemalt habe?
Die Auseinandersetzung mit dem Thema achtsame Begleitung von Kindergartenkindern in Trauer-, Trennungs- und Verlustsituationen verursacht oftmals Scheu, Unsicherheiten, Versagensängste oder das Gefühl, dem nicht gewachsen zu sein. Pädagogische Fachkräfte werden mit Situationen konfrontiert, die ihnen einerseits das schmerzliche eigene Erleben derartiger Verluste aufzeigen oder Handlungsstrategien fordern, deren theoretische Fundierung durch fehlende Erfahrungen nicht vorhanden sind.
Biografiearbeit als Schlüssel
Im Verlauf meines Studiums und basierend auf eigenen persönlichen Erfahrungswerten, hatte ich die Möglichkeit mich gemeinsam mit einer Kommilitonin intensiv mit der Methode der Biografiearbeit auseinander zu setzen und Chancen, Möglichkeiten und Ansätze der Biografiearbeit bei der achtsamen Begleitung von Kindern und deren Angehörigen in Trennungs- und Verlustsituationen in einem reflexiven Handlungsleitfaden für pädagogische Fachkräfte zusammenzutragen. Dieser Blogbeitrag dient der Sensibilisierung für die dringende Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit einer möglichen Begleitung von Kindern in einschlägigen Lebenssituationen.
Die Biografie eines Menschen reflektiert Einstellungen, Erwartungen, Erlebnisse und erweiterte oder auch beschränkte Handlungsmuster.
„Biografiearbeit ist eine strukturierte Methode in der pädagogischen und psychosozialen Arbeit, die Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen ermöglicht, frühere Erfahrungen, Fakten, Ereignisse des Lebens zusammen mit einer Person ihres Vertrauens, zu erinnern, zu dokumentieren, zu bewältigen und zu bewahren. Dieser Prozess ermöglicht Menschen, ihre Geschichte zu verstehen, ihre Gegenwart bewusster zu erleben und ihre Zukunft zielsicherer zu planen“ (Lattschar; Wiemann 2018, S. 14)
Die Kernelemente der Trauerbegleitung
Die Konfrontation mit Trennungs- und Verlustsituationen in der Entwicklungsbegleitung im Kindergartenalltag zeigt mögliche Facetten auf. Die Verabschiedung von Eltern- oder Geschwisterteilen in Scheidungskonstellationen, der Verlust von Bindungsbeziehungen durch Inobhutnahme, die Begleitung von Freunden oder Familienangehörigen in schweren Krankheitsverläufen mit Todesfolge oder der absehbare bzw. plötzlich eintretende Tod von Eltern/ Elternteil, Großeltern, Geschwistern, Haustieren, Nachbarn, Verwandtschaft, Kollegen oder selbst Kindern von Fachkräften. Diese lebensverändernden Ereignisse eröffnen Erfahrungsbereiche, die eine kindzentrierte Begleitung fordern. Dabei ist die Vorbereitung auf den Umgang mit derartigen Auseinandersetzungen effizienter und im pädagogischen Aufgabenfeld zu verorten. Die Notwendigkeit der Selbstreflexion eigener Emotionswelten ist die Voraussetzung für die Vermeidung einer Vermischung eigener und fremdbezogener Empfindungen. Die Kenntnis kultureller, religiöser und familienspezifischer Handlungsstrategien ist Basis einer kindzentrierten Begleitung. Das Bewusstsein für die Auswirkung der eigenen Biografie auf adäquate Handlungsmuster ist essenziell und implementiert die Chance einer verstehenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Bewältigung aktueller Krisen sowie dem Entwerfen von Zukunftsplänen (Klingenberger; Ramsauer 2017, S. 71f.). Somit sind die zwei Kernelemente der kindzentrierten Begleitung von Kindern und deren Familien in Trauer- und Verlustsituationen: Die Selbstreflexion der Fachkräfte und der Erwerb Grundkenntnisse der Trauerprozesse bei Kindern im Kindergartenalter.
Die Selbstreflexion der Fachkräfte
Den Fokus auf die eigene Person und die Auseinandersetzung mit der Fragestellung „Welche Trauer-und Trennungserfahrungen haben meine Biografie geprägt?“ wirkt konträr zu der Einstellung von Erwachsenen, Trauer- und Verlusterfahrungen als Schutzsegment von Kindern fernzuhalten. Die Entwicklungsbegleitung von Kindern verlangt vielmehr das Erlebte zu erfassen und eine gemeinsame Krisenbewältigung zu forcieren. Ohne diese ist eine Konstruktion geeigneter Bewältigungsstrategien ausgeschlossen. Eine unterdrückte Kommunikation über die Trauer- und Verlustsituation bedingt das
Entstehen unangepasster Fantasien infolge von Negativerfahrungen durch fehlendes „Situation-beim-Namen-nennen“ und somit die Entwicklung einschlägiger Schemata mit negativem Erfahrungsgehalt. Das konsequente Durchführen biografischer Selbstreflexion eröffnet die Chance unvorbereitetes Aufbrechen eigener Verlustsituationen und folglich lähmender Entscheidungsfindung durch das „Antriggern“ bei Konfrontation mit ähnlichen Situationen entgegenzuwirken und entsprechend Handlungsstrategien zu implementieren, die Kinder effektiv bei der Bewältigung derartiger Lebensereignisse unterstützen. Verschiedene Impulsfragen dienen der ersten Auseinandersetzung mit dem Thema und bilden die Grundlage für erweiterte Reflexionstools.
Impulsfragen zum Thema Tod
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Impulsfragen zum Thema Verlusterfahrung
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Was beschäftigt mich am Tod?
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Welche Ängste und Hoffnungen habe ich, wenn ich an den Tod denke?
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Glaube ich an ein Leben nach dem Tod?
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Wodurch wurde meine Einstellung zum Tod gespeist?
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Um wen habe ich in meiner Kindheit getrauert?
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Welche Gedanken hatte ich dabei?
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Welche inneren Bilder tauchen dazu auf?
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Wie wurde seitens der Erwachsenen mit meiner Trauer umgegangen?
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Renommierte Autor*innen wie Herbert Klingenberger und Erika Ramsauer verweisen auf die Methoden der Genogrammarbeit, der Bio-Grafik oder der Verwendung eines Zeitstrahls, um eine Selbstreflexion gewissenhafter zu verschriftlichen und eigene prägende Erlebnisse festzuhalten. Dem gemeinsamen Ergründen expliziter Biografien im pädagogischen Team einer Einrichtung wird dabei ein besonderer Stellenwert zugemessen. Dabei ist es essenziell zu hinterfragen, ob das Thema Trauer / Tod / Trennung generell Aktualität im Kita-Alltag besitzt. An dieser Stelle verneinen Fachkräfte oftmals den Bezug zum Tod. Prävention ist jedoch ausschlaggebend. Die Vorbereitung auf derartige Situationen ist als notwendig zu betrachten. Die Facetten dieser Situationen werden später nochmal beleuchtet. Der Abgleich einrichtungsbezogener und gesellschaftlicher bzw. medial transportierter Einstellungen ist die Grundlage für die Reflexion kollegialer Handlungsstrategien. Das Bild vom Kind und explizit eines trauernden Kindes ist dabei entscheidend. Diverse Team-Settings können diesbezüglich hilfreich sein, damit das oftmals unangenehm berührende Thema Verlust und die damit verbunden Emotionen aufgebrochen und zielführend gelenkt werden.
Folgende Vorschläge für Impulsfragen zur Teamreflexion können angeführt werden:
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Sollen Kinder mit dem Thema Tod konfrontiert werden?
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Wie können Eltern und Träger für die Wichtigkeit des Themas sensibilisiert werden?
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Ist es sinnvoll, in der Konzeption den Umgang mit dem Thema
Trauer/ Trennung/ Tod festzuschreiben?
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Wie kann man Tod/ Trauer/ Verlust thematisieren mit Eltern und Kindern?
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Haben wir die Kompetenz Kinder und Familien adäquat zu begleiten?
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Welchen Wert messen wir diesem Thema bei?
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Was ist in der Konzeption über Trauer/ Trennung/ Tod geschrieben?
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Welche Rituale des Abschiednehmens werden in unserer Einrichtung gelebt?
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Welche Haltung bzw. welches Verständnis in der Bewältigung von Krisen hat das Team?
Der Erwerb Grundkenntnisse der Trauerprozesse bei Kindern im Kindergartenalter
Die wohl größte Herausforderung ist es, eine kindliche Auffassung des Trauer- und Verlustgeschehens zu erkennen, zu verstehen, anzunehmen und zu respektieren. Im Kindergartenalter sind Kinder noch nicht in der Lage, dem Begriff Tod die Bedeutung zuzumessen, die von Erwachsenen zugedacht wird. Die fehlenden Erfahrungen und Auseinandersetzungen sind die Grundlage dafür. Miriam Haagen beschreibt in ihrem Buch die Relevanz, dass Kinder den Tod als zeitweilig, umkehrbar und als Weiterleben unter anderen Bedingungen auffassen und entsprechend keine Vorstellung von Endlichkeit haben (Haagen 2017, S. 49ff.). Entsprechend ist es für pädagogische Fachkräfte, die Kinder in prägenden Entwicklungsphasen begleiten und einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes von Kindern ausüben, essenziell, sich mit den durch Verena Kast determinierten vier Phasen der Trauer auseinander zu setzen:
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Nicht-wahrhaben-Wollen: Empfindungslosigkeit
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aufbrechende Emotionen: Verlust wird wahrgenommen -> Wut, Trauer, Freude, Angst, Zorn, Schuldgefühle
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Suchen und Sich-Trennen: örtlich, räumlich, Tätigkeiten, Objekte wie Kleidungsstücke und Fotos
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Neuer Selbst- und Weltbezug: in neue Rolle im Leben einfinden und diese annehmen, Akzeptanz des Todes und Verständnis dafür, dass Zuneigung nicht mehr erwidert wird -> Zuwendung real suchen
(Kast 2014, S. 69ff.)
In der Praxis sind verschiedene Reaktionen von Kindern auf Trauer- und Verlustreaktionen beobachtbar. Diese verweisen auf die Notwendigkeit einer kindzentrierten und bedürfnisorientierten Begleitung. Die Ausprägungen reichen von dem Entwickeln von Schuldgefühlen, Wut, Aggression, Ärger, Verstummung und Rückzug, Hyperaktivität bis hin zur Verdrängung und völliger Ablehnung. Häufig beobachtbare Formen der kindlichen Trauerverarbeitung wurden von Margit Franz mit folgenden Termini beziffert:
Animismus: unbelebte Objekte für lebendig halten
Egozentrismus: Kinder gehen davon aus, dass alle das Gleiche fühlen, denken, sehen -> Anspruch an Eltern und Fachkräfte sich in die Situation der Kinder hineindenken
magisches Denken: Vorstellung von Kindern mit eigenem Denken Wirklichkeit beeinflussen zu können – Verlustpersonen wieder herbeidenken (Franz 2021, S. 67ff.)
Bedarfe von Kindern zu ergründen ist als Prämisse einer erfolgreichen Implementierung angepasster Bewältigungsstrategien zu verorten. Sie benötigen keinen erzwungen Abstand oder herbeigeführte Schonräume. Was Kinder wirklich brauchen, ist authentischer Zuspruch, Gelegenheiten selbstgewählte Freundschaften zu pflegen, offen über ihre Emotionen sprechen zu dürfen und sich dabei ange-nommen und verstanden zu fühlen. Dabei ist es möglich, dass Kinder unter Umständen befremdliche Reaktionen zeigen wie überschwänglichen Humor anstatt kennzeichnender Trauer. Dabei muss die Entscheidung beim Kind selbst liegen, ob es sich in der Einrichtung und gegenüber den anderen Kindern bzw. Fachkräften öffnen möchte oder die Kita als trauerfrei deklariert. Diese Entwicklungsbegleitung fordert ein Höchstmaß an Sensibilität von pädagogischen Fachkräften. Deren eigene Erfahrungen, welcher Natur auch immer, bestimmen deren Haltung und Einstellungen, dürfen aber nicht als Maßstab für eine erfolgreiche Krisenbewältigung des zu betreuenden Kindes zementiert werden. Die reflektierende Auseinandersetzung mit persönlichen Werten und Gedanken muss als Ressourcenquelle genutzt, aber als erweiterbares Repertoire auf Basis individueller Pädagogik betrachtet werden.
In der Trauerbegleitung von Kindern ist der partizipative Bezug zum Elternhaus nicht nur eine wichtige Ressource, vielmehr ein ausschlaggebendes Kriterium. Eltern, Erziehungsberechtigte und Angehörige sollten darüber informiert und aufgeklärt werden, welche unterstützenden Maßnahmen in der Einrichtung stattfinden. Dies verweist auf die notwendige präventive Festlegung pädagogischer Konzeptionen. Transparenz und Mitgefühl dienen der Aktivierung möglicher Bewältigungsstrategien. Das Thema Tod und Verlusterfahrung bedarf der Inklusion in bestehende pädagogische Konzepte und nicht der Exklusion durch Unwissenheit. Diese Hürde gilt es vielerorts zu überwinden. Es bedarf einer sensibilisierten Aufklärung. Die Herausforderung ist darin zu ergründen, dass unterschiedliche Vorstellung akzeptiert und respektiert werden müssen. Während Kinder gegenwartsbezogen und oftmals ohne Vorstellung eines autobiografischen Gedächtnisses interagieren und das Leben als Ganzes nicht vollumfänglich erfassen, sind sowohl Angehörige als auch Fachkräfte biografisch beeinflusst und geprägt. Das gemeinsame Interesse, dem Kind in der Konstruktion seines Selbstkonzeptes zu unterstützen, ist die Handlungsgrundlage für das Tarieren bestimmter Handlungsansätze. Bildungs- und Erziehungspartnerschaften ohne hierarchische Zuschreibungen sind dabei essentiell.
Abschließend sollen einige mögliche Ansätze biografischer Arbeit mit Kindern angeführt werden. Diese Liste ist als reflexiv zu betrachten und bietet lediglich Impulse, welche durch Fachkräfte individuell angepasst werden können. Immer unter der Beachtung vorliegender Gegebenheiten und Möglichkeiten.
Möglichkeiten der biografischen Begleitung im pädagogischen Alltag
Arbeit mit großen Handpuppen
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- Scheu davor, Erwachsenen oder vertrauten Personen eigene Gefühle und Empfindungen anzuvertrauen
- Handpuppen als Brückenfiguren
- berichten den imaginären Personen oftmals offener und unbeschwerter
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Gestaltung Identitätsblüte
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Aufmalen einer Blüte mit diversen Blütenständen
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gemeinsam Erinnerungen an den Verstorbenen in die verschiedenen Blütenblätter malen, schreiben, skizzieren und dadurch Erinnerungsarbeit leisten
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Anregungen für Angaben: Kleidung, Spiel, Essen, Erlebnisse, Orte, Ausflüge, Vorlesegeschichten
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Bereitstellen von diversem Kreativ-material – Schaffen von Erinnerungs-bildern
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sinnliche Verarbeitung von Erlebtem ermöglichen
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Materialien: Farben, Pinsel, Naturmaterialien, Tücher, Papiere, Leim, Schere
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Impulsfragen:
- Wie sieht der Himmel aus?
- Wie stellst du dir den Ort vor, wo … jetzt ist?
- An was erinnerst du dich am liebsten?
- Möchtest du mir zeigen, wie … aussieht?
- Wie fühlst du dich jetzt?
- Wie möchtest du dich gern fühlen?
- An welche Farben kommen dir in den Sinn, wenn du an … denkst?
- Gibt es einen Ort, an dem ihr zusammen wart, den du nicht vergessen möchtest?
- Verbindest du einen bestimmten Ort mit der Person, die du verloren hast?
- Was möchtest du auf keinen Fall vergessen?
- Möchtest du deine Familie malen, gestalten, bauen?
- Möchtest du gern etwas gestalten und dann gemeinsam zu … bringen?
- Gibt es etwas, was du nochmal aufmalen möchtest und dann vergessen willst?
- Macht dir etwas Angst?
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Netzwerkkarten
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Dialogorientierung
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Spiel als Erinnerungs-medium
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Bezug zur Gruppe – Integration statt Exklusion
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- achtsames Begleiten der gesamten Gruppe
- Information an die Eltern- und Erziehungsberechtigten der Gruppe, Trauer und Verlust muss thematisiert werden
- Möglichkeiten für gemeinsame Aktivitäten nutzen:
- Erinnerungskartons basteln
- Impulse im Stuhlkreis
- Bilderbücher allen zugänglich machen – Thema Tod und Verlust gehört zum Leben
- Möglichkeiten der Anteilnahme vermitteln
- gemeinsamer Besuch auf dem Friedhof: WICHTIG: NUR in Rücksprache mit allen beteiligten Eltern und Erziehungsberechtigten
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Fühlen sich Fachkräfte aufgrund fehlender eigener Erfahrungen im Zusammenhang mit Tod und Trauer nicht in der Lage, Kinder in derartigen lebensverändernden Situationen adäquat zu begleiten, muss dies offen und wertschätzend im Team kommuniziert werden und Beachtung finden. Authentizität ist keine Schwäche.
Biografiearbeit stellt eine wichtige Ressource für Kinder und deren Familien sowie den Fachkräften dar. Die Möglichkeiten der Gestaltung dieser ist schier unendlich. Bei aller Vielfalt des möglichen Angebotes, bedarf es durch eine bedürfnisorientierte Pädagogik kindzentriert auszuwählen, welche Unterstützung ein Kind benötigt und auch verarbeiten kann. Die persönliche Biografie ist Basis für nachfolgende Entscheidungen und die Entwicklung von Handlungsmustern. Die Notwendigkeit der Aufarbeitung einschlägiger Lebensereignisse ist damit konstatiert.
Quellen- und Literaturangaben:
Franz, M. (2021). Tabuthema Trauerarbeit. Erzieherinnen begleiten Kinder bei Abschied, Verlust und Tod. München: Don Bosco Medien GmbH.
Haagen, M. (2017). Mit dem Tod leben. Kinder achtsam in ihrer Trauer begleiten. Stuttgart: Kohlhammer.
Kast, V. (2014). Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag.
Klingenberger, H.; Ramsauer, E. (2017): Biografiearbeit als Schatzsuche. Grundlagen und Methoden. München: Don Bosco Medien GmbH.
Lattschar, B.; Wiemann, I. (2018). Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit. Weinheim Basel: Beltz Juventa.
von Anja Cantzler | 27.10.2022 | Bindung und Eingewöhnung, Team, Übergänge
Mittlerweilen gibt es die verschiedensten Eingewöhnungsmodelle, damit Kinder und Familien den Übergang in die Kindertagesbetreuung gut bewältigen können. Am geläufigsten sind hierbei die Eingewöhnungen nach dem Berliner oder Müncher Modell. In den letzten Jahren sind die Peergroup Eingewöhnung und das Partizipatorische Modell dazu gekommen.
Wie du bestimmt weißt, habe ich mich in den letzten Jahren besonders mit der Peergroup Eingewöhnung beschäftigt und seit 17.10.2022 ist nun endlich das so häufig nachgefragte Buch zu diesem Modell erschienen.
Ziele und Nutzen überprüfen
Noch mitten drin in den Eingewöhnungen machen sich parallel gerade viele Teams auf den Weg und überprüfen noch einmal ihre Eingewöhnungskonzepte. Der Impuls kommt hier aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Der Träger drängelt, dass die Eingewöhnung aus wirtschaftlichen Gründen schneller stattfinden muss, die Leitung weiß nicht mehr wie sie den Dienstplan organisieren soll, ein*e Mitarbeitende kommt mit neuen Ideen von einer Fortbildung zurück.
Es ist also erst einmal gut hinzuzuschauen, was ist der Auslöser für den Wunsch nach Veränderung. Hat sich das bisherige Konzept tatsächlich überholt? Was spricht für eine Veränderung? Können die Mitarbeitenden bei dieser Veränderung gut mtgehen? Welche Vorteile bietet eine Veränderung den Kindern und Eltern, aber auch den Fachkräften?
Eingewöhnung nicht nur Sache der Leitung
Die Einführung eines neuen Eingewöhnungsmodells ist demzufolge nie allein Sache des Trägers oder der Leitung. Eine solche Veränderung betrifft immer auch das gesamte Team. Daher besteht die wesentliche Aufgabe darin, das Team im Rahmen des anstehenden Veränderungsprozesses ins Boot zu holen und zu der damit verbundenen Weiterentwicklung der konzeptionellen Ausrichtung zu motivieren.
Wie in anderen Veränderungsprozessen kann die Einführung eines anderen oder veränderten Eingewöhnungsprozesses nur gelingen, wenn alle Mitarbeitenden an der Erarbeitung wesentlicher Qualitätsmerkmale und konkreter Umsetzungsmöglichkeiten beteiligt sind.
Ein Team macht sich auf den Weg …
Zunächst einmal gilt es, den Ausgangspunkt des einzelnen Teams herauszufinden. Wie sich ein Veränderungsprozess entwickelt, hängt entscheidend von der Diskussions-, Partizipations- und Entscheidungskultur in der Einrichtung ab. Hinzu kommen die unterschiedlichsten bisherigen Betreuungserfahrungen und die bestehende Teamkultur. Das Team eines Regelkindergartens, das über viele Jahre hinweg nur Kinder ab drei Jahren aufgenommen und bis mittags betreut hat, steht vor einer anderen Herausforderung als eine Ganztageseinrichtung mit einem integrativen Konzept.
Veränderung braucht Zeit
Die Leitungskraft sollte mehrere Teamsitzungen einplanen, um sich gemeinsam mit dem Team mit den theoretischen Grundlagen, den Säulen und der praktischen Umsetzung der gut gelingenden Eingewöhnung auseinanderzusetzen.
Zu den theoretischen Grundlagen gehören im wesentlichen die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bindungs-, Transitions- und Peergroupforschung. Aber auch Aspekte der Kultursensiblen Pädagogik, der Partizipation und der Bedürfnisorientierung sind zu berücksichtigen.
Nicht alle Mitarbeitenden werden sich von Anfang an von dem anstehenden Veränderungs- und Weiterentwicklungsprozess überzeugen lassen. Dabei ist es auf jeden Fall hilfreich, wenn sich die Leitung der Einrichtung im Vorfeld selbst intensiv mit den Feinheiten beschäftigt hat oder ggfs. eine*n erfahrene*n Referent*in dazu holt. IPP
Ausprobieren als erster Schritt
Manchmal ist es für ein Team einfacher, die vereinbarten Veränderungen zunächst in einer oder zwei Gruppen einzuführen und so erste Erfahrungen zu sammeln, bevor die gesamten Einrichtung weitere Schritte umsetzt.
Ganz gleich, ob ein verändertes Eingewöhnungsodell mit oder ohne externe Begleitung eingeführt wird – wichtig ist auf jeden Fall, dass Sorgen und Bedenken im Team ernst genommen werden und ausgesprochen werden dürfen. Das trägt massiv zum Gelingen einer Veränderung bei.
Erste Schritte in Richtung Veränderung
Wenn du dich nun mit Deinem Team auf den Weg machen möchtest, um dein Eingewöhnungskonzept zu überprüfen, hier ein paar Materialien und Anregungen, die dich im Teamprozess unterstützen können.
Hier kommst du zu meinen 5 Tipps zur Gestaltung einer gelingenden Eingewöhnung. Nach Eintrag in die Email Liste, erhälst du mehrere Emails mit Anregungen zur Reflexion deines Eingewöhnungsprozesses.
In dem Blogartikel: Verschiedene Modelle – ein Ziel erhälst du einen kleinen Überblick über die bestehenden Modelle. Auf Kita-Fachtexte (www.kita-fachtexte.de) gibt es ergänzend kostenfrei zugängliche Texte zu den verschiedenen Modellen z.B. der aktuelle Text von Heike Fink: Die Eingewöhnung in der Peer – das Tübinger Modell
Wenn du dich für die Peergroup Eingewöhnung interessierst, möchte ich dir folgende Podcasts ans Herz legen, die ihr euch auch im Team anhören könnt:
Feas Naive Welt: Eingewöhnung in der Peergroup – ein Interview mit Anja Cantzler
KitaTalks auf YouTube: Peergroup Eingewöhnung in der Kita mit Christa Manske
Das nächste Online-Seminar zur Peergroup Eingewöhnung findet am 5.11.2022 in Kooperation mit Haus Neuland statt. Hier kommst du direkt zur Anmeldung.
Und natürlich kannst du auch mein Buch zur Peergroup Eingewöhnung bestellen.
Never change a running Horse
Wenn du jetzt denkst: „Wieso sollten wir etwas verändern? Es läuft doch alles gut so wie es ist.“ Was gut läuft braucht nicht zwangsläufig eine Veränderung. Nimm meine Anregungen einfach als Einladung, Angebot und Inspiration.
Deine Anja
von Anja Cantzler | 30.08.2022 | Bindung und Eingewöhnung, Gastbeitrag, Resilienzförderung, Spiel, Übergänge
Erneut konnte ich eine wundervolle Gastautorin für diesen Blogbeitrag gewinnen. Passend zum Start ins neue KitaJahr verknüpft sie die Wichtigkeit des Spielens mit den Chancen, die das gemeinsame Spielen für den Beziehungsaufbau zwischen der Fachkraft und den Kindern eröffnet. Ich wünsche viele Anregungen und einen guten Start mit den Kindern und Eltern.
Bindungsstärkendes Spielen in der Eingewöhnung oder wie ich gerne sage in der „Willkommenszeit“
Ein Gastbeitrag von Gundula Göbel
Warum setze ich Willkommenszeit mit Eingewöhnung gleich? Für mich ist diese Zeit, ein Augenblick, Momente und Wochen der Beziehungsgestaltung zwischen der pädagogischen Fachkraft dem Kind und den Eltern. Alle zusammen werden zu einem ergänzenden Bindungs- und Beziehungssystem mit Sicherheit und Feinfühligkeit, um dem Kind bestmögliche psychische Stabilität und emotionale Sicherheit zu ermöglichen.
Nur, wenn auch die Eltern in der Krippe oder Kita willkommen und gesehen werden, werden sie ihr Kind bei diesem wichtigen Schritt und Übergang achtsam begleiten können. Kinder spüren die Gefühle der Erwachsenwelt.
Sich willkommen zu fühlen ist ein Bedürfnis eines jeden Menschen:
Mit einem Lächeln begrüßt zu werden
Verlässlichkeit durch Worte zu erleben
Begrüßungsrituale wie Lieder oder Abläufe zu erfahren
Getröstet zu werden, also Co-Regulation zu spüren
Körperkontakt mit angemessener Nähe und Distanz er erleben
und als Kind sein Nein zu behalten
ist was Kinder im Übergang von sicheren zuhause in die Krippe /Kita dringend brauchen. Feinfühlige Erwachsene. Da sind wir schon beim „Bindungsstärkenden Spielen“ in der Eingewöhnung. Denn ohne beziehungsaufbauende Erfahrungen ist für Kinder kein vertieftes und emotional stärkendes Spielen möglich oder lediglich, wenn die Bezugsperson (bspw. ein Elternteil ) als Sicherheitsanker in der Nähe ist.
Kleinstkinder und Kinder lernen mit allen Sinnen, wir nennen es auch das sensomotorisches Spielen. Kinder entdecken und begreifen die Welt im Spiel. Sie riechen, schmecken, tasten, hören, probieren aus, all das ist auch in der Bindungsentwicklung verankert. Das Baby riecht die Milch, die Mama, den Papa, tastet das Gesicht, die Brust, die Flasch, die Rassel ab, hört die Stimme der Bezugsperson, diese wirkt meist beruhigend und so lässt es sich fortsetzen. All das braucht auch ein Krippenkind in der Eingewöhnung. Dies ist die gemeinsame Stärkung und Aktivierung der Bindungswurzeln aus dem Bindungsbaum-Konzept (siehe Broschüre Bindungsbaum-Konzept).
Das kindliche Spielen ermöglicht dem Kind die Auseinandersetzung mit der neuen Situation, das entdecken der Räumlichkeiten, das Erleben von fremden Gerüchen, Geräuschen, Lautstärken und noch „fremden“ pädagogischen Fachkräften. Im Spielen entwickelt das Kind kreative, aktive oder andere Lösungsstrategien, für den Umgang mit der unbekannten und noch unsicheren Situation.
Das „ Bindungsstärkende Spielen“ ist gerade in der Eingewöhnung ein guter Begleiter. Denn ein Kind kann nur vertieft und versunken entwicklungs- und beziehungsstärkend spielen, wenn es sich sicher fühlt. Deshalb braucht das Kind zuerst die Nähe und Sicherheit der Bezugsperson, welche die Eingewöhnung begleitet. Bspw. Mutter, Vater, Oma oder Opa sind also das wichtigste Bindeglied zwischen Zuhause und Einrichtung, um Kindern Sicherheit zum Entdecken zu geben.
Eine entspannte und emotional sichere Eingewöhnung begleitet vom bindungsstärkenden Spielen, mit Grundlage der Stärkung der Bindungswurzeln festigt das Vertrauen des Kindes, aber auch seine Feinfühligkeit. Denn Kinder brauchen beides. Vertrauen zu ihren Bezugserzieher*innen und gleichzeitig ihre eigene Stimme und ihr eigenes NEIN, wenn sich etwas nicht gut anfühlt.
Durch das bindungsstärkende Spielen können verlässliche Beziehungen aufgebaut werden. Nur wenn Kinder Sicherheit und Orientierung spüren, können sie sich auf es vertieftes Spielen einlassen und auch so Phasen von Anspannung und Entspannung erleben.
Das sensomotorische Spielen ist also für die Entwicklung und Bindung gleichermaßen von Bedeutung. Kinder brauchen Sinnesreize um sich zu entwickeln, aber auch um ihre “Krippen-Welt“ oder „Kita-Welt“ mit allen Sinnen zu entdecken.
Den Begriff „Bindungsstärkendes Spielen“ habe ich 2013 entwickelt auf Grundlage des Bindungsbaum-Konzeptes. Denn nur wenn wir die Bindungswurzeln im Spiel, in der Interaktion und durch Vorbildsein stärken und diese bei uns und den Kindern angemessen versorgen wird Kindern ihre eigene Entwicklung als ganz eigene Persönlichkeit und mit ganz eigenem Temperament ermöglicht. Moegel sieht das Spielen als ein fundamentales Lebenssystem des Menschen. Wir dürfen und sollten für die psychische Gesundheit von Kindern, das vertiefte Spielen ohne ständige Unterbrechungen von Seiten der Erwachsenen in Einrichtungen in den Mittelpunkt stellen. Das kindliche Spielen zeigt auch in der Eingewöhnungszeit und im Weiteren, ob sich Kinder sicher fühlen, es ist ein Ausdruck ihres Wohlbefindens.
Wenn ein Kind in der Eingewöhnung nicht spielen möchte oder kann, ist es ein non-verbales Zeichen für die erwachsenen Welt.
Was könnte das Kind uns sagen:
- ich brauche mehr Sicherheit
- es ist mir hier zu laut
- der Geruch ist mir fremd oder erinnert mich an…
- soviel Kinder auf einmal
- warum sieht mich keiner
- Angst, dass Mama/Papa einfach geht (vielleicht frühe Erfahrungen)
- Mama, Papa ich spüre eure Angst um mich
- usw.
Der Aufbau einer Beziehung braucht Zeit und das Kind sowie die Eltern Orientierung, Sicherheit sowie Feinfühligkeit.
Pädagogische Fachkräfte haben oft schon einige Eingewöhnungen begleitet und sind Erwachsene, die es reflektieren können. Aber für jedes Kind ist es das „ERSTE-MAL“ und Kinder reagieren emotional mit ihrem ganzen Körper.
Das „Bindungsstärkende Spielen ermöglicht dem Kind Freiraum und Halt, Eltern und alle Erwachsenen sehen die Bedürfnisse des Kindes nach Bindung und schwingen sich ein. Nicht die Bedürfnisse des Erwachsenen nach schneller Eingewöhnung, dem Gefühl das Eltern den Kitaablauf belasten oder der Personalmangelstress dürfen Gründe sein, Kinder ihr Grundbedürfnis nach Sicherheit nicht zu ermöglichen.
Vertieftes Spielen ist nur mit Bindungs- oder Beziehungssicherheit möglich. In der Eingewöhnung ist somit „Bindungsstärkendes Spielen“ von großer Bedeutung.
Eingewöhnung und „Bindungsstärkendes Spielen“:
- Impulse vom Kind aufnehmen und feinfühlig begleiten
- Interaktion (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Vorbild, Einschwingen)
- Co-Regulation als Grundlage für den Bindungs- und Beziehungsaufbau
- „Gefühle färben ab“ (eigene Haltung, eigene emotionale Verfassung, Erwartungen)
- Spielen braucht Sicherheit – Zeit – sensomotorisches Material
- Spielen ist: Entwicklung – Lösung – Freiheit – Lustgewinn und nicht Ablenkung von Gefühlen
- Alle Gefühle brauchen liebevolle Begleitung
„Bindungsstärkendes Spielen“ ist besonders in der Eingewöhnung von:
Feingefühl – Achtsamkeit – Wertschätzung und Offenheit geprägt.
Gundula Göbel
Kinder- und Jungendlichenpsychotherapeutin
Traumatherapeutin | Paar- und Familientherapeutin | Spieltherapeutin | Autorin |Referentin
21244 Buchholz in der Nordheide
mail@gundula-goebel.de, www.gundula-goebel.de
Meine Veröffentlichungen siehe: www.thekla.de/shop
von Anja Cantzler | 9.08.2022 | Bindung und Eingewöhnung
Ich bin seit 30 Jahren im Arbeitsfeld der Kinderbetreuung tätig- erst 10 Jahre als pädagogische Fachkraft und seit 20 Jahren als Weiterbildnerin und Coachin.
Bereits während meiner ersten Eingewöhnung im Berufspraktikum spürte ich intuitiv, dass hier etwas grundlegend schief lief. Von Eingewöhnung konnte damals überhaupt noch nicht gesprochen werden: die Kinder kamen und mussten von Tag 1 an ohne Eltern bleiben.
Mittlerweile hat sich einiges getan. In vielen Krippen, Kitas und Kindertagespflegen wird nach standardisierten Modellen die Ankommenszeit mit Kindern und Eltern gestaltet. Die Bedürfnisse aller Beteiligten stehen im Fokus und werden ernst genommen. Im besten Fall findet der für die weitere Zeit wichtige Beziehungsaufbau von Fachkraft und Kind individuell und im Tempo des Kindes statt.
Trotzdem geistern immernoch fatale Irrtümer hartnäckig durch die Köpfe einiger Fachkräfte. Damit gilt es ein für alle mal aufzuräumen, sind sie doch oft ein Zeichen für ein längst überholtes Bild vom Kind, und fehlender Augenhöhe zu den Bindungspersonen als Expert*innen für ihr Kind. Manch Haltung und Praktik in der Eingewöhnung grenzt bedauerlicherweise an schwarze Pädagogik.
Es folgen ein paar Irrtümer und ihre begründete Richtigstellung. Es geht nicht darum irgendwen damit explizit an den Pranger zu stellen und zu verurteilen. Ich möchte Fachkräfte zur Reflektion und Überprüfung einladen, damit die hier benannten, meist unreflektierten Irrtümer irgendwann einmal Geschichte und damit passe sind.
# Irrtum No. 1 – Früher blieben die Kinder doch auch ohne Eltern und das klappte viel besser
Dem möchte ich als Zeitzeugin vehement widersprechen. Es war für alle Beteiligten einfach nur anstrengend und eine Zumutung.
Viele Kinder haben sich die Seele aus dem Leib geschrien und geweint. Wenn sie Glück hatten, gab es Fachkräfte, die zumindest versucht haben, sie zu trösten, was aber nur bedingt gelingen konnte, weil man sich i.d.R. kaum bis gar nicht kannte. Die ein oder andere Fachkraft war der Überzeugung, dass wenn man das Kind nur lang genug ignoriert, es schon mit dem Theater aufhören würde. Und das taten viele Kinder dann auch: sie ergaben sich in ihr Schicksal und versuchten ihren Weg zu finden.
Leider übertreibe ich mit diesen Schilderungen nicht.
Wer jetzt behauptet, er habe das auch erlebt und es habe ihm nicht geschadet., den frage ich: und wie sieht es heute für dich mit unbekannten Situationen aus? Magst du dich auf Veränderungen einlassen und begrüßt diese freudig und offen? Oder bist du da eher vorsichtig und zweifelnd?
Merke: Das die frühere Praktik nach außen gesehen funktionierte, lag sehr wahrscheinlich daran, dass die Kinder keine andere Wahl hatten.
Neurobiologisch gesehen war das Stressystem der Kinder hoch aktiv und die Kinder haben gemäß der drei Überlebensreaktionen: Kampf, Flucht oder Erstarrung reagiert. Flucht (weglaufen) war ihnen nicht möglich ihr Kampf und Widerstand (weinen, schreien) wurde schlichtweg ignoriert. Was blieb, war die Resignation. Also schleunigst weg mit diesem Mythos.
Kinder brauchen auf jeden Falleine einfühlsame Begleitung durch ihre Bindungspersonen, zugewandte und beziehungsstarke Fachkräfte und Zeit.
Natürlich gibt es auch einzelne Kinder, die von Tag 1 an, problemlos alleine in der Kindertagesbetreuung bleiben. Hier handelt es sich um die berühmte Ausnahme von der Regel, die nicht als Maßstab genommen werden kann und darf.
# Irrtum No. 2 – Eine zu starke Bindung zu der begleitenden Bindungsperson erschwert den Eingewöhnungsprozess
Genau das Gegenteil ist der Fall. Auf der Basis einer starken Bindung verfügt das Kind über genügend Urvertrauen, um sich aufgeschlossen auf die neue Umgebung, die Fachkräfte und die anderen Kinder einzulassen. Das Kind löst sich dann von seinen Bindungspersonen besser, weil es die Erfahrung gemacht hat, dass es anderen Menschen vertrauen kann. Zunächst einmal wendet ein stark gebundenes Kind sich aber in der unbekannten Umgebung an die vertaute Bindungsperson, bevor es schrittweise sich offnet.
Als Fachkraft kannst du den Beziehungsaufbau zum Kind insofern unterstützen, indem du interessiert und neugierig auf das Kind zugehst und dich einfühlsam um eine gute Beziehung zum Kind bemühst.
Natürlich gibt es Eingewöhnungen, in denen ein Kind sich nur schwer lösen oder es den Bindungspersonen schwer fällt loszulassen. Dann lohnt es sich, sich gemeinsam mit den Bindungspersonen auf den Weg zu machen, welche Irsache hier zu finden ist und lösungsorientiert zu schauen, was möglich ist, um allen Beteiligten die Eingewöhnung zu erleichtern.
Merke: Wenn ein Kind sich in der Eingewöhnung nur schwer löst, hat das nichts mit der starken Bindung zu tun. Ganz im Gegenteil: Eine starke Bindung unterstützt die Eingewöhnung.
# Irrtum No. 3 – Mit Vätern ist die Eingewöhnung viel leichter
Das sollte schon aufgrund der Klischeehaftigkeit der Aussage schleunigst verabschiedet werden. Vätern wird damit eine weniger enge Bindung zugeschrieben als den Müttern. Das entspringt veralteter Rollenvorstellungen, die sich in den vergangenen 10 Jahren in der Praxus nocheinmal deutlich verändert haben. Ich konnte das allein auf den Elternabenden der letzten 12 Jahre veobachten, dass Väter immermehr Interesse an der Entwicklung ihrer Kinder zeigen, vermehrt zu den Elternabenden kommen und der Eingewöhnung mit ähnlichen Zweifeln, Sorgen und Bedenken entgegensehen, wie die Mütter der Kinder.
Auch der Anteil der Väter, die ihre Elternzeit nutzen, ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Väter haben demzufolge keine schlechtere Bindung zu ihren Kindern, hier ist geschlechtsunabhängig die tatsächliche Beziehungsqualität von Bindungsperson zu Kind entscheidend.
Eine weitere tief verwurzelte Annahme, die hier noch verankert ist, dass Männer perse weniger Gefühle haben bzw. zeigen und ihnen die Trennung von ihrem Kind daher viel weniger ausmacht. So ein Quatsch!
Merke: Natürlich gibt es Unterschiede in der Bindungs- und Beziehungsqualität der beiden Elternteile (oder anderer Bindungspersonen zum Kind). Das ist aber niemals am Geschlecht festzumachen. Väter und andere Bindungspersonen brauchen die gleiche achtsame und feingühlige Begleitung in der Eingewöhnungszeit wie Mütter.
# Irrtum No. 4 – Die erste Trennung muss am 4. Tag stattfinden
Das ist ein Riesenmissverständnis in Verbindung mit dem Berliner Modell. Dort wird der 1. TrennungsVERSUCH am 4. Tag durchgeführt. In anderen Modellen findet dies häufig erst später statt, was ich sehr begrüße.
Im Berliner Modell lege ich größten Wert auf das kleine Wörtchen „Versuch“. Hier wird angetestet und ausprobiert und sofort unterbrochen, wenn das Kind Gegenwehr und Widerstand zeigt bzw. Sich nicht auf die Tröstangebote der Fachkraft einlässt.
Es geht also nicht um Schema F, sondern es gilt die Persönlichkeit und das individuelle Tempo des Kindes zu berücksichtigen.
Für die meisten Kinder ist eine Trenung am vierten Tag noch viel zu früh.
Merke: Eine Trennung am 4. Tag ist in den meisten Fällen wenig sinnvoll. Auch der Trennungsversuch ist zu diesem frühen Zeitpunkt fragwürdig. Ein sanftes Ankommen und Kennenlernen stärkt Vertrauen und Beziehung zu den Fachkräften, was den Übergang sehr erleichtert.
# Irrtum No.5 – DAS ist vom Modell so vorgeschrieben
Diese Aussage beinhaltet im Prinzip eine Steigerung von Irrtum No. 4. Egal worum es geht, es wird mit den vermeintlichen Vorgaben des Modells argumentiert. Das führt dann in der Praxis nicht selten zu Stillblüten, wie ich selbst schon in der Elternberatung begleitet habe. Die komplette Eingewöhnung war durchgetaktet. Einschließlich Tag 4 hatte das Kind bis dahin kooperiert und dann kam es zu der Situation, dass am 5. Tag die bisherige Bezugserzieherin erkrankt war und anstatt nun die Trennungsversuche vorübergehend auszusetzen, wurde ganz nach Plan verfahren. Obwohl das fast einjährige Kind, die neue Person noch nicht kannte, sollte die Mutter nach einer kurzen Verabschiedung gehen. Das Kind reagierte verzweifelt und weinte und schrie. Aber die Mutter sollte trotzdem für 20 Minuten fortbleiben. Der Mutter wurde vermittelt, dass sei alles ganz normal und nach dem Modell wäre das der übliche Weg.Glücklicherweise vertraute die Mutter auf ihr Bauchgefühl und verkürzte nach einigem Hadern die Trennungssituation gegen den Willen der Fachkraft. Nach dem Wochenende sollte es sofort zu weiteren Trennungen kommen, gegen die das Kind sich vehement auflehnte. Bei den Fachkräften war bis zum Schluss kein Abweichen vom Ablauf des Modells möglich, sie beharrten auf die Richtigkeit des Vorgehens. Nachdem dann der Vater sein Glück erfolglos versuchte (Fun-Fakt für Irrtum No. 3) wurde seitens der Eltern die Eingewöhnung abgebrochen und das Kind abgemeldet.
Merke: Eingewöhnungmodelle wurden nicht dazu entwickelt, sich sklavisch daran zu halten. Sie geben eine Orientierung, wie eine Eingewöhnung gelingen kann. Alle Modellen haben zum Ziel, dem Kind und seinen Eltern Sicherheit und Orientierung zu geben, damit sie den Übergang in die Kinderbetreuung gut bewältigen können. Dabei ist es elementar wichtig, die Bedürfnisse des Kindes ernst zu nehmen. Diese Bedürfnisse äußert es durch seine Bindungssignale wie schreien, weinen, klammern etc.
# Irrtum No. 6 – Das Kind muss trocken sein, wenn es in die KInderbetreuung kommt
Diese Frage wurde mir viele Jahre von jungen Eltern gestellt, die dies von ihren Eltern oder Großeltern so eingetrichtert bekommen hatten. Der Ursprung dieser Grundannahme ist schnell zu ergründen. Als ich vor 30 Jahren als Fachkraft gearbeitet habe, waren hier in den alten Bundesländern die jüngsten Kinder vier oder fünf, die in den Kindergarten kamen. In diesem Alter hatten die meisten Kinder bereits ihre Blase und ihren Darm unter Kontrolle. Mit den zunehmend jünger werdenden Kinder bedurfte es ein Umdenken, das glücklicherweise in den meisten Fällen stattgefunden hat.
Vor gut 20 Jahren traf ich noch regelmäßig auf Fachkräfte, die diese Meinung vertraten. Heute ist das deutlich weniger geworden, aber noch immer nicht ganz weg. Laut meiner Umfrage auf Insta sind es ca. 30% der Fachkräfte, die Kolleg*innen haben, die diesen Irrglauben auch heute noch für Kinder ab 3 Jahren vertreten. Und irgendwo in Bayern gibt es allen Ernstes eine Einrichtung, die für Kinder ab 3 Jahren eine Wickelzulage für den personellen Mehraufwand von bis zu 30 € im Monat erhebt. 
Merke: Kein Kind muss vor der Eingewöhnung trocken sein. Bei den meisten Kindern ist dies entwicklungsbedingt nicht vor dem 4. Lebensjahr möglich. (vgl. G. Haug-Schnabel und Dorothee Gutknecht).
# Irrtum No. 7 – Die Mutter sollte vor der Eingewöhnung abgestillt haben
Das sind veraltete und falsche pädagogische Denkweisen, die heute überholt sind. Wir wissen es heute besser: die Mutter ist nicht für den Beziehungsaufbau zwischen dem Kind und der pädagogischen Fachkraft zuständig oder verantwortlich. Bindungspersonen können natürlich diesen Aufbau unterstützen, indem sie ihrem Kind vermitteln, dass der/die Erzieher*in xy wir Fachkräfte nett und vertrauenswürdig sind. Aber die Bindungspersonen müssen dafür nichts (!) an der Beziehung zu ihrem Kind verändern.
Ich selbst habe vor 25 Jahren eine Eingewöhnung erlebt und begleitet, bei der die Mutter des 6 Monate alten Kindes von ihrem Recht gebraucht machte, 1-2 x am Tag noch zum Stillen zu uns in die Einrichtung zu kommen. Auch das hat wundervoll funktioniert. Ich hatte den Eindruck, dass das Kind so auch zwischendurch Kraft bei der Mutter auftanken konnte, um sich dann wieder auf die Fachkräfte und den herausfordernden KitaAlttag einlassen zu können.
Wenn eine Fachkraft der Meinung ist, dass Stillen oder ein Familienbett, Tragen, Kuscheln usw. falsch sei, da sich ein Krippen- oder Kindergartenkind von seinen Eltern ablösen muss, dann kennt diese Person sich recht wenig mit der Bindungstheorie und Entwicklungspsychologie aus oder möchte sich nicht auf dem aktuellsten Stand halten. Hier sollte noch einmal sehr genau das Bild vom Kind überprüft werden.
Merke: Kinder können sehr wohl Beziehungen zu anderen aufbauen, auch wenn sie gestillt werden. Vor allem bei so großen Entwicklungsaufgaben wie die Bewältigung der Eingewöhnung ist das Weiterstillen sogar von Vorteil, weil es Geborgenheit, Trostt und Zuwendung gibt. Es beruhigt das Stresssystem des Kindes und erleichtert den Übergang.
# Irrtum No.8 – Verabschiedung lieber kurz und schmerzlos
Das entspringt der falschen Vorstellung, dass wenn ich ein Gefühl nicht lange spüren muss, dass es dann auch schnell wieder vorüber ist. Bei einer unvermittelten und zügigen Verabschiedung, ist das Kind meistens überrumpelt und reagiert überrascht. Je nach Alter und Entwicklungsstand kann es die Situationen und die damit verbundenen Konsequenzen noch gar nicht richtig einschätzen. Daraus lässt dann nicht zwangsläufig schließen, dass nur weil das Kind in diesem Moment gar nicht reagieren kann, es ihm damit wirklich gut geht.
Möglicherweise ist sein Stresssystem gerade so hochgradig aktiviert, dass ihm nur das Notfallprogramm Erstarren zur Verfügung steht. Gerade dann sollte die Bindungsperson sich langsam verabschieden dürfen, damit das Kind soweit beruhigt wird, dass es sich auf die Bezugserzieher*innen in diesem Moment überhaupt einlassen kann.
Dazu gehört auch, dass das Kind die Erfahrung machen kann: wenn ich traurig bin, dann ist das okay. Ich werde verstanden und ich werde nicht alleine gelassen mit meinen Gefühlen.
Das „Abflücken“ des Kindes vom Arm der Bindungsperson ist übrigens übergriffig und grenzüberschreitend. Im Rahmen des institutionellen Kinderschutzes steht dieses Verhalten absolut auf rot.
Merke: Es ist für das Kind wichtig, mit seinen wahren Gefühlen in Kontakt kommen zu dürfen und dann tut es gut, dies mit den für sie wichtigsten Personen zu erleben und zu bewältigen. Ein Kind hat das Recht auf seine Trauer und sein Traurigsein. Bekommt ein Kind die Zeit, das es braucht, wird es sogar viel schneller das nötige Vertrauen zu den Bezugserziehende fassen können.
# Irrtum No. 9 – Tränen gehören zur Eingewöhnung dazu, da muss das Kind durch
Tränen gehören bei vielen Kindern in der Trennungssituation durchaus dazu und sind Ausdruck ihres Trennungsleids und Trennungsprotestes, das muss aber nicht so sein. Lässt man Kind und Bindungspersonen die notwendige Zeit, sich zu orientieren, anzukommen und Beziehung zur Fachkraft aufzubauen, können diese Tränen auch gänzlich ausbleiben.
Tränen sind immer Signale für Bindungsverhalten, die mitteilen wollen: Geh noch nicht! Bleib hier! Ich bin noch nicht so weit. Ich brauche dich, bis ich hier gut angekommen bin. Und Tränen können auch ein wichtiges Ventil sein, um der eigenen Trauer Ausdruck zu verleihen.
Und Nein- kein Kind muss da pauschal durch. Leider erlebe ich immernoch viel zu oft, dass Kinder in ihrer Trauer und in ihrer Not alleine gelassen werden. Sie sitzen dann einsam und alleine – sich selbst überlassen – und sollen mit ihrem Schmerz alleine klar kommen. Das ist herzlos und grausam. Mit Blick aus das Kinderschutzkonzept zählt das eindeutig zu emotionaler Gewalt. In einer sowieso stressbehafteten Zeit wie der Eingewöhnung wird das Kind dadurch zusätzlichem Stress ausgesetzt. Das ist schlichtweg entwicklungshemmend und nicht zu beschönigen. Dazu gibt es mittlerweilen fundierte Erkenntnisse aus der Neurobiologie – Stress verändert die kindlichen Gehirnstrukturen und verlangsamt Lern- und Entwicklungsprozesse. Zusätzlich haben frühe Stresserfahrungen eine nicht zu unterschätzende Auswirkung auf das spätere Stresssystem des Erwachsenen. Das kann minimiert werden durch gute Co-Regulation und hier wirken gerade die vertrauten Bindungspersonen für das Kind beruhigend.
Merke: Ist ein Kind untröstlich, sind gerade die Bindungspersonen wichtig, damit das Kind in deren Gegenwart möglichst stressdreduziert, sich mit den Fachkräften, den Kindern und der neuen Umgebung vertraut machen kann.
Ein Kind, dass traurig ist, braucht Zuwendung, Nähe und Trost. Es darf niemals in seinem Schmerz alleine gelassen werden. Wenn die Bindungspersonen nicht da sind, ist dies eine der wichtigsten Aufgaben der pädagogischen Fachkraft.
# Irrtum No. 10 – Das Kind weint extra, damit es nicht hierbleiben muss
Und da ist sie wieder: die Unterstellung, dass Kinder aus der Absicht heraus handeln, um die Erwachsenen unter Druck zu setzen und zu manipulieren. Hier lassen Johanna Harrer (Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind) und Dr. Michael Winterhoff (Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden) grüßen.
Nein!!! – Kinder manipulieren uns Erwachsene nicht. Sie treten für sich und ihre Bedürfnisse ein und wenn wir dies übergehen, dann tun sie das aus der Not heraus auch heftig und lautstark. Wenn Kinder weinen, dann haben sie immer einen guten Grund. Wenn sie dann Bindungspersonen an ihrer Seite haben, die das ernst nehmen, dann ist das als Fachkraft anzuerkennen und zu unterstütze. Das kann im Einzelfall natürlich auch heißen, dass ein Kind während oder auch nach der Eingewöhnungszeit früher als geplant abgeholt wird, weil es das gerade braucht. Ein solches Vorgehen fördert das Vertrauen des Kindes in alle Richtungen.
Merke: Die Bedürfnisse und Bindungssignale wahrzunehmen, zu verstehen und darauf einzugehen, fördert das Vertrauen des Kindes und erleichtert den Übergang Familie zur Kinderbetreuung. Dabei ist Feinfühligkeit und Sensitive Responsivität- eine wichtige Kompetenz einer jeden pädagogischen Fachkraft.
# Irrtum No. 11 – Wenn wir einmal in der Trennungsphase sind, dann gibt es kein zurück mehr
Die Basis einer bedürfnisorientierten und beziehungsstarken Eingewöhnung ist die Feinfühligkeit der eingewöhnungsbegleitenden Fachkräfte. Dazu gehört es auch, sehr einfühlsam damit umzugehen, dass das Kind zu unterschiedlichsten Zeitpunkten des Ankommens, seiner Trauer Ausdruck verleiht und signalisiert: „Das geht mir gerade alles viel zu schnell, ich brauche noch Zeit.“
Auf dieses Bedürfnis dann einzugehen und Tempo rauszunehmen oder die Bindungsperson auch noch einmal für eine kurze Zeit wieder mit dabei sein zu lassen ist kein Rückschritt. Ausführlicher habe ich zu diesem Punkt schon einmal in meinem früheren Blogartikel: „Abschied ohne Tränen?“ geschrieben.
Diese Maßnahmen werden immer dann notwendig, wenn das Kind kurz davor steht, sich komplett zu verweigern, was in der Praxis oftmals dadurch forciert wird, dass die Trennungsversuche ohne Pause Tag für Tag wiederholt werden.
Merke: Eingewöhnung verläuft nie linear. Ein Kind, das auch in der Trennungsphase seine Bindungspersonen wieder einfordert, braucht noch Zeit. Rückschritte geben dem Kind die Möglichkeit zur Entschleunigung. Dieses Vorgehen dient schließlich der Stressregulation und dem Aufbau von Vertrauen.
# Irrtum No. 12 – Wenn die Bindungsperson jetzt nachgibt, dass wird es gar nicht mehr klappen
Passt auch zu Irrtum No. 11. Diese Haltung begegnet mir häufig, wenn die Eingewöhnung eigentlich schon als abgeschlossen gilt und das Kind dann von heute auf morgen seine Trauer zeigt und wieder mit nach Hause möchte.
Dann meinen manche Fachkräfte, sich auf einmal dem Kind gegenüber durchzusetzen und ihm zu zeigen zu müssen, dass das so nicht funktioniert.
Dabei gibt es viele Gründe, warum ein Kind, die Nähe zur Bindungsperson der Kinderbetreuung wieder vorzieht:
– ihm geht es gerade nicht so gut
– es war so schön zu Hause
– es gab Stress, der noch nicht ausgestanden ist
– das Trennungsleid tritt jetzt erst mit Zeitverzögerung auf
– das Kind war krank und muss sich erst wieder neu einfinden
…
Merke: Es gibt immerwieder Situationen, in denen es dem Kind gut tun wird, dass die Bindungspersonen, sich für die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes Zeit nehmen. Ausnahmen können hier sehr stressreduzierend wirken. Alles andere artet schnell in einen Machtkampf aus und ist als adultistisch einzuordnen. Wenn die Bindungsperson das Kind aus verschiedensten Gründen nicht vwieder mit nach Hause nehmen oder nicht in Ruhe den morgentlichen Übergang in dieser Situation begleiten kann, braucht das Kind eine Erklärung und zugewandte Fachkräfte, die diesen erschwerten Übergang dann feinfühlig begleiten und die Gefühle ernst nehmen.
# Irrtum No. 13 – Die Eingewöhnung muss nach 2 Wochen abgeschlossen sein
Diese Fehlannahme wird oftmals von den Ablaufplänen des Berliner Eingewöhnungsmodells abgeleitet, die dort exemplarisch für 2 Wochen beschrieben sind.
Mit Hineinspielen kann zusätzlich
- der Druck, den manche Eltern machen, so schnell wie möglich die Kita wieder verlassen zu können,
- die große Zahl der neuen Kinder, die es aufzunehmen gilt,
- der Wunsch der Fachkräfte schnellstmöglich zum Alltag zurückkehren zu können,
- nicht so kange von Bindungspersonen beobachtet zu werden
- …
Merke: Keine Eingewöhnung ist nach exakt 2 Wochen abgeschlossen. Die meisten Kinder bleiben zwar ohne größeres Trennungsleid nach 2 Wochen ohne ihn Bindungspersonen in der Kinderbetreuung. Der Prozess des Ankomnens, Orientierens und Sicherheit gewinnen geht aber noch weiter. Wie eine bindungs- und bedürfnisorientiert gestaltete Eingewöhnung aussehen kann, habe ich in dem Kita Talk mit Teresa Miss: Jedem Kind sein eigenes Tempo – auch in der Eingewöhnung besprochen.
Soweit ersteinmal die wesentlichsten Irrtümer und Mythen, die ich auch mit Hilfe einiger Fachkräfte auf Instagram und Faceboo gesammelt habe. Fehlt dir noch ein Aspekt? Dann schreib ihn gerne in die Kommentare. Gerne schaue ich dann dort wie wir diesen Mythos entkräften können.
Ich wünsche dir eine bindungsstarke und bedürfnisorientierte Eingewöhnungszeit mit den neuen Kindern und Eltern
Deine Anja
von Anja Cantzler | 19.07.2022 | Bindung und Eingewöhnung, Gastbeitrag, Peergroup Eingewöhnung
Ein besonderes Dankeschön geht hier an die Kolleginnen des Evangelischen Kindergarten Huckepack in Hüllhorst. Petra Stallmann hat sich vo ein paar Jahren auf meine Anregung hin auf den Weg gemacht, die Peergroup Eingewöhnung in ihrer Gruppe umzusetzen.
Hier kannst du nun nachlesen, wie die verschiedenen Beteiligten diese Form der Eingewöhnung erleben.
Die Eingewöhnung aus Sicht der Leitung
Die Rückmeldung der Eltern zu diesem Eingewohnungsmodell sind durchweg positiv. Das ergab sich aus dem zurückliegenden Audit. Wichtig ist es aber, die Eltern sorgfäItig über dieses Eingewöhnungsmodell zu informieren. Auch die Kontakte unter den Eltern werden intensiviert, weil Sie sich mehr als Gruppe erleben. Das stärkt ihr „Wir-GefühI“. Die EItem. erfahren auch so etwas wie eine „Eingewöhnung & Abnabelung“ als Gruppe.
Es eignet sich nur fur kleine Gruppen, weil die Räume und Personalkapazität dies sonst nicht zulassen. In einer Betreuungsgruppe in der sich 20 oder mehr Kinder befinden, gibt es bei uns keine Möglichkeit parallel zum Betreuungsalltag einen Gruppenraum „nur“ fur die Eingewöhnung vorzuhalten. Da auch nachmittags Kinder in der Einrichtung sind, steht bei uns kein Zeitfenster zur Verfügung in dem das möglich wäre. Die Personaldecke lässt kaum zusätzliche Arbeitszeiten zu, ohne dass Personal im pädagogischen Alltag fehlt. Ideal ist es, wenn Eingewöhnungszeiten ab 14 / 15 Uhr sind. So i‹ann der „normale‘ Betrieb weiterIaufen. Das bedeutet aber, dass uriter den Bestandskindern möglichst keine oder nur vereinzelt 45 Stunden gebucht sind. Im Gruppentyp II at es sich bewährt 50% der Gruppe neu zu belegen.
Die Kinder in der Krippengruppe profitieren von dieser Eingewohnung, weiI sie nicht ganz so sehr in Abhängigkeit von der einzelnen Erzieherin stehen. Natürlich ist das Personal nach wie vor ein wichtiger Bez!ehungsanker, dennoch scheinen die Kinder schneller Kontakte zu den anderen Kindern aufzubauen, was auch bedeutet, dass sie schneller ins Spiel kommen.
Die Sicht von Petra, der Gruppenleitung
Seit 2017 gewöhnen wir die Kinder unserer U3 Gruppe nach dem Peergroupmodell ein. Nach wie vor verläuft die Eingewöhnung sehr strukturiert, unkompliziert und schnell ab.
Dass die Kinder „sicher“ eingewöhnt sind, zeigt sich auch nach längeren Fehlzeiten der Kinder oder Erzieherinnen. Dieses ließ sich in den Coronazeiten gut beobachten. In der Bringzeit betreten die Kinder selbstverständlich den Raum und werden fröhlich vom Rest der Gruppe empfangen, bewegen sich zielgerichtet auf ein bestimmtes Spielzeug zu oder gehen in ihre Lieblingsecke, in der sie sich besonders wohlfühlen. Manche Kinder suchen sich anfangs eine Bezugserzieherin aus, verhalten sich aber nach kurzer Zeit sehr offen gegenüber den anderen Erzieherinnen der Gruppe.
Zum reibungslosen Ablauf der Eingewöhnung gehören die Planung, die Informationen, die Absprachen mit dem Team und den Eltern sowie die Vorbereitung der Räumlichkeiten mit Spielzeug in doppelter Ausführung. Lezteres sorgt dafür, dass die Kinder durch Beobachtung und Nachahmung auf Augenhöhe kommunizeren können und so in Interaktion treten.
Schnell bekommen die Kinder Freude am Explorieren. Die Sicherheit bietet ihnen die integrierte Elternecke, wo die Kinder jederzeit Kontakt zu ihren Eltern aufnehmen können. Darüber hinaus dient diese Ecke auch dem Kennenlernen der Eltern untereinander, was sich für die weitere Mitarbeit in der Gruppe als sehr hilfreich erwiesen hat.
Die einzugewöhnenden Kinder werden in Absprache mit den Eltern in zwei Gruppen geteilt, einer Vor- und einer Nachmittagsgruppe. Diese beiden Gruppen wurden in den letzten Jahren am vierten Tag zusammengeführt. Ganz individuell halten sich die Eltern an den folgenden Tagen in der Gruppeneltenecke, der ausgelagerten Elternecke auf oder sind per Handy jederzeit errreichbar. Meistens bestätigt sich hier, wie unkompliziert und schnell diese Form der Eingewöhnung abläuft.
Im letzen Jahr hatte ein Kind bereits zwei Tage mit der Mutter den Kindergarten besucht, sich auch sichtlich wohlgefühlt und ist dann für anderthalb Wochen erkrankt. Nach dieser Krankheitsphase begann die Eingewöhnung für dieses Kind erneut. Hier hat es sich als hilfreich erwiesen, die Gruppe zu entzerren, um dem Kind die Möglichkeit zu bieten mit zwei weiteren Kindern in Ruhe in Beziehung zu treten.
Die Sicht von Estelle, einer Gruppenkollegin
Ich empfinde das Eingewöhnungsmodell als eine sehr strukturierte und angenehme Weise, die Kinder nach ihrem eigenen Tempo in den Kindergartenalltag einzugewöhnen.
Zudem finde ich es toll, dass nicht nur die Kinder eine Beziehung und Bindung zueinander aufbauen, sondern auch die Eltern die Möglichkeit haben, sich kennenzulernen und auszutauschen, was einer tollen Atmosphäre der Gruppe und auch der Elterngemeinschaft zu Gute kommt.
Ich finde, die Kinder sind meistens sehr entspannt, und freuen sich auf die anderen Kinder, auf ein bestimmtes Spielzeug oder auf eine bestimmte Räumlichkeit, in der sie sich ganz besonders wohl gefühlt haben.
Kinder, die im selben Alter sind, können toll voneinander lernen, sich bestimmte Dinge abgucken und eine besonders feste Bindung zueinander aucfbauen, was ihnen bei der Trennung von den Eltern enorm hilft.
Vorraussetzung dafür, dass das Modell umzusetzen ist, ist die Mitarbeit der Eltern.
Ich würde abschließend sagen, dass ich in den 3 Jahren durchweg Positives in der Eingewöhnung erlebt habe und sich diese Art des Modells in unserer Gruppe bewährt hat. Außerdem finde ich es super, dass sich die Kinder selber eine Bezugsperson aussuchen können und sie nicht zugeteilt werden.
Die Sicht von Verena, einer weiteren Gruppenkollegin
Eingewöhnung in der Peergroup – aus meiner Sicht eine sehr sanfte, langsame Eingewöhnung, die sowohl den Kindern als auch Eltern Zeit gibt, sich an den Kindergartenalltag zu gewöhnen.
Sie gibt viel Raum und Zeit um die Erzieherinnen, die anderen Kinder, die Räumlichkeiten und auch Rituale kennenzulernen. Die Kinder haben die Möglichkeit, sich Stück für Stück nach eigenem Zutrauen vom Sitzplatz der Eltern zu entfernen und auf „Entdeckungsreise“ zu gehen.
Sie dürfen die Sicherheit erfahren, dass ihre Eltern an dem gleichen Ort wiederzufinden sind.
Wir Erzieherinnen sind bemüht, Kontakt zu jedem Kind aufzubauen. So wird ein gegeseitiges Kennenlernen gefördert, den Kindern wird dennoch die Chance gelassen sich eine Bezugsperson auszusuchen.
Oft gelingt es sehr schnell das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, sodass wir Erzieherinnen nach und nach immer mehr Aufgaben übernehmen können, die sonst den Eltern vorbehalten waren. Natürlich gelingt dieses besonders gut, wenn Eltern bereit sind zuzulassen, dass die Kinder die ersten „Abnabelungsversuche“ unternehmen und diesen Prozess bereitwillig unterstützen.
Für die Eltern bedeutet diese Art der Eingewöhnung, dass sie viel Zeit in die ersten Wochen investieren müssen und sie verlangt auch eine gewisse Art von Flexibilität ab. Hat ein Kind schon tolle Fortschritte gemacht und kann schon für kurze Zeit „alleine“ im Kindergarten bleiben, werden die Eltern in die Elternecke der Einrichtung oder bei kurzem Weg auch nach Hause geschickt.
Da alle Eltern während der Eingewöhnung an einem festen Platz sitzen, in unserem Fall ist das der Nebenraum, bekommen sie auch die Fortschritte der anderen Kinder mit und müssen es auch aushalten, wenn andere Kinder schnellere Fortschritte machen als das eigene Kind.
Ich bevorzuge diese Art der Eingewöhnung, da die Eltern und die Kinder dort abgeholt werden, wo sie gerade stehen. Sie bietet viel Raum und Zeit zum Kennenlernen, gibt den Erzieherinnen gute Beobachtungsmöglichkeiten, um individuell auf die Kinder einzugehen (z.B. wie das Kind getröstet wird, welches Spielzeug besonders interessant ist…).
Als wichtig erachte ich es auch, dass die Kinder mit einem guten Gefühl nach Hause gehen und gerne in den Kindergarten zurückkehren. Deshalb sollten die Spielphasen in den ersten Tagen von kurzer Dauer sein und dann langsam ausgeweitet werden.
Und zum Abschluss die Sicht einer Mutter
Unsere Tochter, 1,7 Jahre, geht seit August 2021 in den Kindergarten. In der Einführungszeit fühlten wir uns als Eltern sehr gut aufgehoben. Die Interaktion mit den Kindern/Eltern erfolgte, trotz Coronabedingungen, sehr intensiv. Unsere Tochter hat schnell Vertrauen zu den Fachkräften gefunden, was wohl auch daran liegt, dass diese alle jederzeit freundlich und offen gegenüber den Kindern und auch den Eltern sind.
In diesem ersten halben Jahr können wir von einer durchaus positiven Entwicklung unserer Tochter sprechen. Wir merken, dass mit den Kindern jeden Tag intensiv interagiert wird. Sei es sprachlich, musikalisch oder auch in der Bewegung. Ihr Wortschatz wächst von Tag zu Tag. Dazu tanzt und singt sie gerne. Auch scheint sie bereits erste engere Verbindungen mit einigen Kindern aufzubauen, da drei bis vier Namen auch außerhalb des Kindergartens eine Rolle spielen. In der Regel ist sie immer positiv gestimmt, wenn wir sie aus dem Kindergarten abholen. Auch morgens freut sie sich, wenn wir sie hinbringen. Für uns ein Zeichen, dass sie sich wohlfühlt und ihr eure Arbeit mit viel Engagement ausübt. Auch ihr Sozialverhalten wird durch den Kindergarten positiv beeinflusst. So signalisiert sie, was sie möchte und sagt auch Nein, wenn es ihr zu viel wird. Das Teilen/Abgeben von Spielsachen klappt ebenfalls schon sehr gut.
Positiv erwähnen möchten wir auch unser erstes gemeinsames Gespräch, wo wir unsere gegenseitigen Erfahrungen bezüglich der Entwicklung unserer Tochter austauschen konnten. Trotz der Coronabedingungen fühlen wir uns von den Fachkräften der Gruppe jederzeit mitgenommen. Der kurze Austausch über den Tag beim Bringen/Abholen finden wir sehr gut.
Mehr über das Modell
Soweit die Stimmen aus der Praxi und den Erfahrungen mit der Peergroup-Eingewöhnung. Ich wünsche mir, dass sie dich vielleicht noch ein bisschen neugieriger auf diese Eingewöhnung gemacht haben.
Wenn du mehr über die Peergroup-Eingewöhnung erfahren möchtest. Im Oktober erscheint mein Buch: Peergroup-Eingewöhnung im Verlag an der Ruhr. Du kannst es schon jetzt im Buchhandel oder im Shop des Verlages vorbestellen.
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